Modediagnose? Autismus — Wenn Gesichter aussehen wie glatte Flächen

Viersen · Ihre Blicke weichen oft aus, ihr Handeln wirkt zu impulsiv und Umarmungen oder Small-Talk versetzen sie gar in Panik - Autisten wirken befremdlich. Was kaum jemand weiß: Gesichter sind für sie fast nicht erkennbar. Trotzdem verfügen sie über Begabungen, die von manchen Firmen sogar speziell gesucht werden.

Das sind die Anzeichen für Autismus
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Das sind die Anzeichen für Autismus

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Foto: Shutterstock/Lisa A

"Wie geht es?" Diese Frage gehört zu den normalen Gepflogenheiten des Alltags, wenn man sich begegnet. Manche Menschen aber stellt das vor eine besondere Herausforderung: "Geht es jetzt darum, wie es mir in diesem Augenblick geht oder in der letzten Woche? Will man von mir wissen, wie es mir gesundheitlich geht? Zielt die Frage vielleicht auf meine finanzielle Lage ab oder darauf, wie es mir in dieser Gruppe geht?", fragt sich dann Regine Winkelmann. Sie ist Autistin und Mutter von vier Kindern, die ebenfalls unter der tiefgreifenden Entwicklungsstörung leiden. Von ihrer Erkrankung hat sie erfahren, als ihr ältestes Kind seine Diagnose erhielt. Denn Autismus ist vererbbar.

Ihn zu fassen ist jedoch außerordentlich schwer. Denn Autismus kann in unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen auftreten und sich in verschiedenster Weise zeigen. Deutlich zum Ausdruck bingt das die Formulierung Autismus-Spektrum-Störung, unter der sich die einzelnen autistischen Erkrankungen wie Asperger der frühlindlicher Autismus einordnen. "Kennt man einen Autisten, kennt man eben nur einen", sagt Regine Winkelmann, die aks Mitbegründerin des Vereins "autsight" im diagnostischen Wirrwarr rund um den Autismus als selbst Betroffene eine Innensicht zur allgemeinen Sicht von außen beisteuern möchte.

Extreme Schüchternheit ist kein Autismus

"Ich hatte immer das Gefühl irgendwie falsch zu sein und nie richtig dazuzugehören", beschreibt sie ihre eigene Vergangenheit mit all ihren schmerzvollen Erfahrungen. Heute kann sie sich vieles erklären, doch unvergessen macht das die vielen einschneidenden Erlebnisse im sozialen Miteinander nicht. Wenn die Familie Besuch bekam, habe sie sich als Kind oft unter der Sitzbank vor dem sozialen Überfall in Sicherheit gebracht. Von dort aus oder auch im direkten Miteinander musste sie Gespräche aushalten, die über sie geführt wurden: Ob sie zurückgeblieben sei, wollten andere von ihrer Mutter wissen. Die aber habe das scheue Verhalten und den stets ausweichenden Blick mit besonderer Schüchternheit begründet.

Heute weiß sie, dass der mangelnde Blickkontakt und auch das Vermeiden von Körperkontakt Symptome der angeborenen Erkrankung sind. Sprechen kann sie darüber nur in dieser Ausführlichkeit, weil sie die dazu notwendige Ritalindosis eingenommen hat. Denn häufig geht Autismus mit einer Aufmerksamkeits-Defizitstörung (ADS) einher. Die Betroffenen stehen unter Informationsdauerbeschuss, auf Daueraufnahme, unter der sie keinen klaren Gedanken fassen können.

Autisten denken und handeln anders als ihre Umwelt. Ihre Unfähigkeit Mimik lesen zu können, führt im sozialen Miteinander immer wieder zu Irritationen und Fehleinschätzungen. Gesichter anderer bleiben Menschen mit einer Autismusstörung häufig wie verschwommene Flächen im Kopf in Erinnerung. Dennoch können die Betroffenen mit geeigneten Mitteln lernen, Gesichtsausdrücke wahrzunehmen, sie zu deuten und darauf zu reagieren. Aus dieser Störung leitet sich die häufige Fehlannahme ab, die Betroffenen hätten keine Gefühle.

Warum Autisten Sprache anders verstehen

Smalltalk ist für sie eine Tortur, weil sie Ironie sowie die Aussagen zwischen den Zeilen nicht verstehen können und Sprache immer wörtlich nehmen. Aussprüche wie "Das geht jetzt aber einen Schritt zu weit" oder "Jetzt halt aber mal die Luft an" führen dadurch zu irritierten und seltsamen Reaktionen manches Autisten — zumindest aus Sicht der restlichen Bevölkerung. Er hält die Luft an, anstatt wie vom Gesprächspartner eigentlich gemeint, weniger massiv aufzutreten. Ähnliche Probleme ergeben sich durch die fehlende Fähigkeit, non-verbale Signale intuitiv zu erkennen und zu entschlüsseln. "Autisten hören anders, riechen anders und schmecken anders", sagt Renate Winkelmann. Bloße Gerüche können in ihnen ein Fluchtverhalten auslösen, Krankheitsgefühl erzeugen oder extreme Reaktionen wie Erbrechen hervorrufen.

Als sie das erzählt, erinnert sie sich an den Geruch des Parfums ihrer Grundschullehrerin. Es roch schwer nach Vanille. Einmal so bedrängend, dass ihr mitten in der Schulstunde vor Bedrängung schwindelig wurde, sie Übelkeit hochkommen spürte und sich schließlich auf ihre Bank übergab. Dabei wollte ihr die Lehrerin nur etwas erklären. Heute hasst die diplomierte Ingenieurin Vanillepudding.

Während solche autismustypischen Auffälligkeiten weniger bekannt sind, ist spätestens seit dem amerikanischen Hollywood-Film "Rain Man" hingegen vielen Menschen bewusst, dass Autisten über besondere Begabungen wie zum Beispiel ein fotografisches Gedächtnis verfügen können. Manche hingegen lernen nie zu sprechen. Das zeigt, in welchem Spektrum sich die Erkrankung zeigt. Mediziner sprechen darum von Autismus-Spektrum-Störungen. Inselbegabungen zeigen sich meist nur Asperger-Autisten. Das, was für diese Menschen meist unnütz ist, wollen Firmen nun nutzbar machen. So hat das Software-Unternehmen SAP im Jahr 2013 gezielt damit begonnen, Autisten in spezialisierten Bereichen einzusetzen, um ihre Begabung zu nutzen. Bis zum Jahr 2020 sollen es weltweit 650 Autisten sein. Als erstes Unternehmen in Deutschland beschäftigt nach eigener Aussage auticon ausschließlich Menschen im Autismus-Spektrum als Consultants im IT-Bereich.

Dauerstress in Schule oder Beruf

Solche Meldungen erwecken den Anschein, als seien diese Menschen einfach nur eigenartige Genies. Sie täuschen darüber hinweg, dass die beruflichen Aussichten für diese Menschen nicht rosig, sondern im Gegenteil sogar ausgesprochen schwierig sind. Denn sie blenden aus, wie stark die Betroffenen unter schweren Beziehungs- und Kommunikationsstörungen leiden und wie schwer es ihnen darum fällt, sich mit ihren Eigenarten in Menschengruppen zurecht zu finden. Von jungen Betroffenen schon weiß man, dass ein Schulbesuch zum überdimensionalen Problem ausarten kann. Zu viele Gerüche, Geräusche, soziale Verstrickungen, Gesichter und falsch verstandene Worte quälen sie. Doch die Außenwelt sieht nur die Andersartigkeit, darum werden Autisten oft zum Mobbingopfer.

Wie unterschiedlich Inselbegabungen sein können, beschreibt Regine Winkelmann an sich selbst: "Gängig hält sich die Behauptung, Autisten seien Mathegenies. Hätte man mich gefragt, ob ich aus den rheinischen Vogelarten hundert auswendig kann, hätte ich 'ja‘ gesagt", sagt sie. Der Mathelehrer sei hingegen zu dem Urteil gekommen "Nein, ihr Kind kann gar kein Autist sein. Es rechnet so schlecht."

Die Erkenntnis darüber, das vor allem Asperger-Autisten oftmals besonders intelligent sind, kommt jedoch für viele Menschen unerwartet, die sich vorwiegend über deren unpassendes und seltsames Verhalten wundern. "Du bist ja gar nicht so blöd, wie du aussiehst", hatte einmal ein Kind zur selbst noch jungen Regina Winkelmann gesagt, als es das begriff. Sie hingegen betrachtete daraufhin zu Hause ausgiebig ihr Gesicht, fest der Annahme, damit den Grund für ihre Probleme zu finden. Schließlich konnte ihrem Verständnis nach damit etwas nicht in Ordnung sein. Schließlich sehe irgendetwas darin "blöd" aus.

Das weiß man über die Ursachen

"Als Hauptursache für diese Erkrankung wird inzwischen die Genetik angesehen", sagt der Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Viersen, Dr. Ingo Spitczok von Brisinski. Daneben werden Umweltfaktoren wie zum Beispiel Traumata als Auslöser diskutiert, wie auch die neuronale Architektur. Annahmen, wie die des Londoner Arztes Andrew Wakefield, die Autismus 1998 als erst später erworbene Erkrankung in Folge eines Impfschadens auswiesen, sind längst als wissenschaftlich falsch diskreditiert.

Erst gerade wurde ihm die ärztliche Zulassung entzogen, weil er behauptet hatte, die Mumps-Masern-Röteln-Impfung könne Autismus auslösen. Da sich die Möglichkeiten der klinischen Diagnostik erst in den letzten 25 Jahren grundlegend verbessert haben, erfahren viele erwachsene Autisten erst heute durch späte Tests oder durch die Diagnose der Krankheit bei ihren Kindern von ihrer eigenen Krankheit.

Sind Autisten Pflegefälle?

Im Gegensatz zu autistischen Kindern, haben Erwachsene häufig erlernt, ihre Andersartigkeit in gewissem Rahmen zu kaschieren. Dem einen glückt dies durch eine medikamentöse Therapie, anderen durch elernte Verhaltensmuster. Das macht je nach autistischer Ausprägung und Möglichkeiten der individuellen Anpassung nötig, dass Betroffene oft lebenslang fachlich und therapeutisch begleitet werden.

Vielen Eltern, die heute erfahren, dass ihr Kind unter einer Autismus-Spektrum-Störung leidet, kann es helfen, Pflegegeld für ihr Kind zu beantragen. Doch die meisten wissen nicht, dass das möglich ist. "Bei Pflegegeld denken die meisten nämlich an alte, pflegebedürftig Menschen", sagt Inga Haubrichs, Vorsitzende des Vereins achtsam e.V., der sich für die Unterstützung autistisch behinderter Menschen einsetzt. Die Erfahrung zeigt zudem: Viele Krankenkassen lehnen solche Anträge zunächst einfach ab, oder schicken auf die Bitte nach den nötigen Antragsformularen das für die Pflegestufe Null, unter die laut Haubrichs zum Beispiel Asperger-Autisten-Kinder grundsätzlich fallen, einfach nicht mit.

Dabei haben die Betroffenen seit dem 1. Januar 2013 aufgrund ihrer eingeschränkten Alltagskompetenz mindestens Anspruch auf ein Pflegegeld von 120 Euro im Monat oder ambulante Pflegesachleistungen von bis zu 225 Euro monatlich. Ab dem 1. Januar 2015 kann sich die finanzielle Unterstützung je nach Pflegestufe durch das dann in Kraft tretende Pflegestärkungsgesetz nochmals verbessern.

Das allerdings kann nach Einschätzung vieler Hilfsvereinigungen für Autisten nur einen Teil an Unterstützung ausmachen. Denn die vielen Kinder, die heute diese Diagnose erhalten haben, werden älter werden und das fordern, was Generationen vor ihnen nicht hatten: Qualifizierte Hilfe und Therapie, mit der sich Folgeerkrankungen wie Depressionen oder Burn-out verhindern lassen. Denn schon jetzt ist die Zahl der Therapeuten, die erwachsenen Autisten zur Verfügung stehen in Deutschland gering.

(wat)
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