Menschenfresser gab es schon in der Steinzeit Tabubruch Kannibalismus

Düsseldorf (rpo). In Zeiten, in denen Toleranz auf höchstem Niveau, Laissez-faire oder schlichte Gleichgültigkeit herrschen, mutet es anachronistisch an, dass es noch immer Verhaltensweisen gibt, die von unserer Gesellschaft sanktioniert und deren Verursacher mit schwersten Strafen belegt werden. Kannibalismus ist ein solches Jahrtausende altes Tabu, dessen Bruch zum Entsetzen und zur Verstörung in der Gesellschaft führt.

Der Name Kannibale entstammt dem spanischen Caribales/Canibales, dem eine Sammelbezeichnung von Ureinwohnern Mittel- und Südamerikas, den Kariben, zugrunde liegt. Entgegen anderslautender Reisebeschreibungen, u. a. auch von Kolumbus, waren die Kariben selbst zu keiner Zeit Menschenfresser.

Das Phänomen Kannibalismus allerdings existiert weitaus länger, als alle bekannten Geschichtsquellen vermuten lassen. Archäologische Funde aus dem Rhônetal, Frankreich, lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass schon Vorläufer des modernen Menschen eifrig der Menschenfresserei frönten.

Paläontologen fanden zwischen Rotwildskeletten brutal zertrümmerte menschliche Knochen und Schädel, die den Schluss zulassen, dass keine ritualisierte Verzehrung von Toten vorgelegen haben konnte. "Wer Knochen so behandelt, hat keinen Respekt vor der Persönlichkeit des Toten — er will ans nahrhafte Mark", sagt Paläontologin Dr. Yolanda Fernandez-Jalvo vom Naturkundlichen Museum in Madrid.

Kannibalismus kommt in den besten Zivilisationen vor

Die Rhônetal-Funde unterstreichen die These, dass es den Kannibalismus nie gegeben hat. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Gründen, warum Menschen andere Menschen verspeisen. Kannibalismus als Ritual beispielsweise kennen eine Menge Naturvölker. Und es scheint keinen Erdteil gegeben zu haben, der sich ausklammern ließe. Im Vordergrund dieser ritualisierten Handlung stand der Wunsch, die Kräfte des Verzehrten möge auf einen selbst übergehen.

Oft wurde das Gehirn der Toten verzehrt, was in diesen Völkern manches Mal zu Krankheiten führte, die der Creuzfeldt-Jakob-Erkrankung sehr ähnlich zu sein scheinen. Das Ritual des Verspeisens menschlicher Körper zum Zwecke der Einverleibung und körperlichen Vereinigung mit dem anderen wurde in sehr abstrakter Form von der katholischen Kirche in der Eucharistie aufgegriffen. Bei der sogenannten Transsubstantiation werden "Blut" und "Leib" Christi verspeist — eine rituelle Vereinigung des Menschen mit Gott.

Kannibalismus als Faszinosum

Was den Kannibalismus zu einem Faszinosum macht, ist die Tatsache, dass er immer wieder im Verlaufe der vergangenen Jahrhunderte in Gesellschaften auftrat, die sich selbst als "zivilisiert" kennzeichnen. Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen, in denen es zu Kriegszeiten oder bei großen Hungersnöten massenhaft zu kannibalistischen Handlungen kam.

Im Dreißigjährigen Krieg wurde Breisach, nahe der heutigen Schweizer Grenze, mehrere Monate lang belagert und ausgehungert. In ihrer Not verspeisten die Insassen eines Verlieses tote Mitgefangene. Noch schlimmer wirkte sich die 900tägige Belagerung Leningrads, dem heutigen St. Petersburg, aus. Zwischen 800.000 und einer Million Menschen verhungerten, viele der Überlebenden gaben an, sich von Leichenteilen ernährt zu haben.

Die unerklärliche Furcht des Menschen vor dem Tabubruch

Doch selbst dieser Kannibalismus aus der Not heraus wird in seinem Schrecken übertrumpft von der sexuellen Perversion, die Menschen antreibt, ihr Opfer zu töten und dieses brutal auszuweiden. Der deutsche Fritz Haarmann brachte erwiesenermaßen 24 junge Männer um, die er zu Dosenfleisch verarbeitete. Der Russe Andrej Tschikatilo tötete unvorstellbare 53 Menschen auf grausame Art und Weise und verspeiste vor allem deren Geschlechtsteile.

Und der jüngste Fall des deutschen Armin Meiwes, der als "Kannibale von Rotenburg" in die Geschichte der Rechtsmedizin eingehen wird, hat vermutlich eine sexuelle Perversion als Hintergrund, wenngleich der voll schuldfähige Angeklagte jedes sexuelle Motiv von sich weist. Allen Beispielen liegt aber die urzeitliche Vorstellung zugrunde, sich mit seinem Opfer, das man "zum Fressen gern hat", zu vereinigen.

Warum dieses und andere, gesellschaftlich relevante Tabus ein solches Medienecho und Resonanz in der gesamten Bevölkerung auslösen, ist schwierig zu beantworten. Die reine Tötungshandlung für sich genommen scheint die Öffentlichkeit nicht so sehr zu interessieren. Ähnlich wird Inzest die Gemüter der Menschen nicht allein deshalb beschäftigen, weil es zu einer sexuellen Handlung gekommen ist. Eine wichtige Eigenschaft von Tabus scheint zu sein, dass eine Gesellschaft nicht öffentlich gegen deren Existenz angeht — ein Tabu wird nicht als Verbot erachtet.

Die Gesellschaft folgt einem inneren, selbst auferlegten Druck bei der Vermeidung eines Tabubruchs und begründet dies mit religiösen, psychologischen oder soziologisch-kulturellen, nicht wissenschaftlich begründbaren Argumenten. Möglicherweise können auch angeborene Verhaltensweisen eine Rolle spielen, die ohne reflektierte Kontrolle ablaufen und deshalb nicht erlernt werden.

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