Buch "Moral Phobia" "Der Welt ist egal, ob wir Yoga machen"

Düsseldorf · Die Trendforscherin Judith Mair leidet unter "Moral Phobia" – Angst vor einer Übermoralisierung unseres Alltags. Die kommerziell befeuerte Pervertierung von Konzepten wie Authentizität beleuchtet sie in einem grandiosen Buch.

 So sollte jeder Morgen beginnen, dann klappt's auch mit dem Weltfrieden.

So sollte jeder Morgen beginnen, dann klappt's auch mit dem Weltfrieden.

Foto: dpa

Die Trendforscherin Judith Mair leidet unter "Moral Phobia" — Angst vor einer Übermoralisierung unseres Alltags. Die kommerziell befeuerte Pervertierung von Konzepten wie Authentizität beleuchtet sie in einem grandiosen Buch.

Die große Leistung der Autorinnen ist, dabei nie dem mächtigen Impuls zur Polemik nachzugeben. Der nüchterne Stil mit Aufzählungen real existierender Marken, Läden und Magazine für den wachsenden Teil der Gesellschaft zwischen Hipster und Bionade-Biedermeier sowie die vielen Verweise auf akademische Aufsätze lassen die Abstrusitäten dieser Welt nur umso deutlicher hervortreten. Bonus: Passagen wie "Schwangerschafts-Yoga, Fat-Yoga, Kinder-Yoga, Hormon-Yoga, Queer-Yoga, Lunchbreak-Yoga und Senioren-Yoga" haben Mantra-Qualität. "Ommm" ist ja schließlich so 20. Jahrhundert.

Die Wut der Autorinnen über den Überlegenheitsgestus dieser Menschen gegenüber Dickeren, Dümmeren, Ärmeren oder sonstwie "Schlechteren" im Trash-TV und in der Nachbarschaft ist omnipräsent, zynisch werden sie dabei aber nicht. "Natürlich teile ich die Meinung, dass der Zustand der Welt im Allgemeinen bedenklich ist", sagt Mair, und dass auch sie sich eine Welt ohne Verkehrstote, Raucherbeine und Tierversuche wünsche. "Die Frage ist nur, ob Achtsamkeitsseminare in veganen Naturholzhütten, in Handarbeit erstellte Luxus-Lastenräder und lokale Street-Food-Märkte tatsächlich die Lösung sind."

"Moral Phobia": "Der Welt ist egal, ob wir Yoga machen"
Foto: Gudberg Nerger

Keine Häme über die Hybris, nur Fassungslosigkeit

Es gruselt den Autorinnen schlicht angesichts der Warenwelt, die entstanden ist, seit der Neoliberalismus grüne Ideale gekapert hat, den kleinsten gemeinsamen Nenner einer selbsternannten Avantgarde mit dickem Geldbeutel und diffus schlechtem Gewissen fest im hypnotischen Blick.

Trotzdem drehen sie die Spirale des Besserwissens nicht noch weiter. Da ist keine Häme über die Hybris der Hippies 3.0, nur Sprenkler von Amüsement in der Fassungslosigkeit angesichts der Sehnsucht nach einer Welt, in der "nichts und niemand mehr inszeniert ist, sondern alles ganz und gar unmittelbar und wahrhaftig. Das hat lustigerweise vor allen anderen die medial- und marketingtechnische Inszenierungsmaschine begriffen, gegen die die Authentizität ursprünglich auf den Plan gerufen wurde". So wird das Konzept Authentizität vollständig pervertiert, zum Bullshit-Bingo-Buzzword degradiert und kräftig kommerzialisiert. "Authentic Wear" etwa ist Kleidung, der künstlich Gebrauchsspuren verpasst werden — oder auch getragene Jeans, die vom Hersteller "zurückgenommen, gereinigt und durch eingestickte Initialen des Original-Trägers im Bund hyper-personalisiert werden. Danach werden sie als individuelles Stück Lifestyle weiterverkauft."

Das bedarf keiner Kommentierung mehr.

Unprätentiös ist dieses Buch nicht, dafür sorgen schon Format und das fast unanständig großzügige Layout, aber es ist ein Fundus voller Fußnoten, der kluge Gedanken en masse enthält und zum Weiterdenken mahnt: So erscheine das Prinzip "Bio-Baumwolle" als Erfolgsgeschichte, sei aber von den globalen Modekonzernen okkupiert worden, die sich damit einen grünen Anstrich verpassen und vom verkaufsfördernden Argument "Hautverträglichkeit" gern profitieren. Die größeren Umweltprobleme, insbesondere der Wasserverbrauch von 2000 Litern für ein einziges T-Shirt, blieben bei alledem unverändert bestehen. "Ich will ja nicht über die Autobahn rasen, dabei 'Ich will Spaß, ich geb Gas' rufen und Cola-Dosen aus dem Fenster werfen", sagt Mair. "Aber man sollte genauer hinschauen: Heute heißen Smoothies 'Innocent' und werden von Coca Cola vertrieben; Flexibilität am Arbeitsplatz ist oft nur ein anderes Wort für Selbstausbeutung."

Was als Botschaft bleibt: Mehr zweifeln. Vor allem daran, ob der moderne Ablasshandel funktioniert — ob der Zustand der Welt tatsächlich in so unmittelbarem Zusammenhang mit dem Inhalt der eigenen Einkaufstasche steht, wie man sich gern einredet.

(tojo)
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