Selbstversuch Minus 115 Grad - warum die Kältehölle gesund ist

Spezialkliniken behandeln Patienten, die zum Beispiel an Rheuma-Erkrankungen leiden, mit sehr niedrigen Temperaturen. Unser Redakteur hat einen Selbstversuch unternommen.

Die tröstliche Eigenschaft von Rekorden ist ihre Vorläufigkeit. Über Jahrzehnte mussten Leute, die von einem zweiten Leben als Eiszapfen träumten, nach Sibirien reisen, nach Oimjakon, um den kältesten Ort der Erde zu genießen. Minus 67,8 Grad Celsius wurden da gemessen. Es gibt dort nichts, das im Winter nicht auf der Stelle einfriert. Dann reklamierten Forscher den oberen Platz auf dem Kältetreppchen für ein Plateau in der Antarktis: minus 93,2 Grad. Aber das ist nun auch Makulatur, denn den kältesten Punkt der Erde habe ich persönlich besucht: Er befindet sich an der Bergstraße 6-12 in Wuppertal. Dort liegt das Krankenhaus St. Josef, das sich "Zentrum für den Bewegungsapparat" nennt und auch eine Rheuma-Klinik beherbergt. Therapie-Clou ist eine Kältekammer. Es werden minus 115 Grad erreicht. Gipfel der Heimsuchung: Man darf nur in Badehose mit wenigen wärmenden Accessoires hinein.

Viele reden davon, ich habe es ausprobiert. Resultat vorab: Gegen Wuppertal ist Oimjakon eine Sauna, und über die Antarktis kann ich nur schmunzeln. Wer minus 115 Grad überlebt, kann sich beim britischen Geheimdienst vorstellen. Mein Name ist Goertz, Wolfram Goertz.

Schmerzen gehen in dieser Kälte für einige Stunden verloren

Schon die alten Griechen wussten, dass entzündliche Gelenkschwellungen gut auf Schnee vom Olymp ansprachen. Die Schmerzen waren besser auszuhalten, und hinterher war jeder mobiler. Die Beweglichkeit der Attiker hielt zwar nie lange an, war aber als Therapieoption - jedenfalls im Winter - eine feine Sache. In Wuppertal betrachtet man die Kältetherapie mit wissenschaftlichem Hintergrund. Die Medizin weiß, dass körpereigene Schmerzsensoren durch neue Reize stummgeschaltet werden. Das ist wie mit dem Schmerz im dicken Zeh rechts, der bei der Heimwerkerei, wenn der Hammer auf dem linken Daumen landet, urplötzlich verschwindet.

Kälte hilft bei vielen Indikationen: bei entzündlich-rheumatischen Gelenkerkrankungen, Arthrose, Fibromyalgie, Sehnenentzündungen, Spastiken der Muskulatur, Multiple Sklerose, Neurodermitis, Schuppenflechte oder Schlafstörungen. "Die Patienten gesunden nicht in der Kältekammer, aber sind hinterher viel empfänglicher für die Krankengymnastik", sagt Chefärztin Astrid Thiele. "Sie lassen Bewegungen mit sich machen, die sonst nicht funktionieren - oder nur unter großen Schmerzen." Dabei sieht sie das Behandlungsspektrum überaus weit: "Es gibt fast keine Krankheit, bei der Kältetherapie nicht hilft." Auch bei Asthma lohnt sich der Gang in die Hölle von Wuppertal. Sportprofis schwören ebenfalls auf Kälte, so die Bayern und der BVB.

Gute Nerven sollte man hier unbedingt besitzen

Das muss man einmal erlebt haben, aber für Warmduscher ist es nichts. "Bringen Sie eine Badehose mit, eine Pudelmütze, Handschuhe, Socken und Turnschuhe", bat mich Thiele. Einen Mundschutz bekomme ich auch, weil die Kälte alles gefrieren lässt, was nicht bei drei wieder in der Wärme ist.

Wie wird das wohl sein? Werde ich mich elend fühlen wie Polarforscher John Franklin kurz vor dem Hingang? "Wir passen auf Sie auf", rufen Thiele und die Physiotherapeutin Nicole Gonsior aufmunternd. Hinter der Glasscheibe werden sie zuschauen, wie ich erst das Bibbern, dann das Zappeln bekomme. Zur Not würden sie mich rausholen, sagen sie. Ein Trost ist das nicht.

Kaum umgezogen, komme ich mir vor wie ein Kandidat in der legendären ZDF-Sendung "Wünsch Dir was". Überlebenstraining als medizinische Therapie. Irgendwie bin ich froh, dass es mich nur selten im Rücken zwickt, denn es gibt ja Abertausende Kranke, die gebeutelt sind von ihrem Morbus Bechterew, von rheumatoider Arthritis oder chronischen Schmerzsyndromen. Ich gehe vor allem aus Neugier und aus journalistischer Sorgfalt hinein: Nur wer weiß, wie es ist, kann es weiterempfehlen. Allerdings fühle ich mich in meiner Montur etwas lachhart; nebenan sitzen feixend ältere Damen, die gleich ins warme Bewegungsbad dürfen. Ich hingegen soll schockgefrostet werden.

Die Vorkammer ist das krasse Gegenteil des Aufwärmtrainings

Zuerst muss ich in die Vorkammer, die droht bereits mit minus 60 Grad. Schon hier gelten eisige Kriterien: Patienten mit Herz-Kreislauf- und Lungenleiden müssen leider draußen bleiben, ebenso Klaustrophobiker. Ich darf zwar hinein, muss mich aber mit Nachdruck überreden. Zum Helden geboren bin ich nicht.

Die Tür geht auf, der Raum klirrt mir entgegen, dabei ist er nur eine Etüde, damit ich mich akklimatisiere. Die Vorkammer ist die Androhung von Menschenfeindlichkeit; damit wirkt sie selbst so abweisend, als wolle sie einen loswerden. Mir scheint es wie eine Prüfung des Herakles: erst die stymphalischen Vögel und der kretische Stier, dann die Kältekammer von Wuppertal.

Ich soll mich bewegen, tanzen, darf nicht stillstehen. In Bewegung sind vor allem die Zähne. Sie klappern in einem Rhythmus, der an Silvestergeknatter erinnert. Es ist wirklich sehr, sehr kalt. Nach 30 Sekunden heißt es aus dem Lautsprecher: "Und jetzt in die Hauptkammer." Dort herrschen minus 115 Grad. Es ist dunkler, wie in der Unterwelt - der Ort des ewigen Eises in Gasform, das meinen Körper einhüllt wie ein Mantel aus Packeis. Ich überlege, ob dieser Hades auszuhalten ist. Mir kommt es aber gar nicht sooo viel kälter vor. Ich schlottere wie Espenlaub, schöpfe jedoch die Hoffnung, dass ich es überlebe. Irgendwann schalte ich auf Autopilot. Ich lasse das Eis wie in Trance gewähren.

Am Ende schaffe ich zwei Minuten, das ist sehr gut für einen Anfänger - und viel länger ist sowieso verboten. Dann ertönt die erlösende Stimme: "Sie dürfen raus." Dankbar folge ich. Meine Gefäße stellen sich weit, Wärme durchflutet mich wie Glühwein intravenös. Draußen ist die Raumtemperatur eine gute Mutter, die mich in den Frotteemantel hüllt und flüstert: "Alles vorbei!"

Und ich erlebe, was Monika Klass meinte, als sie von einem "Endorphin-Ausstoß und einem Schub fürs Immunsystem" sprach. Die Chefärztin für Rheumatologie am Helios-Klinikum St. Johannes in Duisburg leitet ebenfalls eine Kältekammer und kennt den Moment, da ein Patient hinterher glücklich wie ein Baby aus der Kammer kommt, weil er sich überwunden hat: "Ja, hier beweist man Mut." Viele fühlen sich jetzt vital. Ich bin erst einmal müde und würde gern etwas schlafen, auch das ist normal, weil ich vorher, nun ja, vor allem Schiss hatte. Jetzt bin ich ein Held und möchte in Erwartung größerer Aufgaben gleich zu "M" durchgestellt werden.

Zehn Euro für eine Begegnung mit dem Packeis

Die Wuppertaler Klinik hat für ambulante Patienten einen Pauschalvertrag mit der Barmer GEK abgeschlossen. In Duisburg muss der Patient den Trip zum Südpol selbst bezahlen: zehn Euro. Dort geht es aber nur bis minus 80 Grad. Wie uncool. Für den Effekt spielt der Unterschied indes keine Rolle, er ist überall gewaltig. Das sagt auch Hans Lüdke, der in Wuppertal nach mir an der Reihe ist. Er leidet unter Arthrose in mehreren Gelenken und war schon viele Male in der Kammer. Die Heldenphase hat er hinter sich. Er freut sich nur darauf, gleich keine Schmerzen mehr zu spüren. Jetzt, da auch mein Eis gebrochen ist, weiß ich, wie Lüdke sich fühlen wird, und kann sagen: Dem Manne wird geholfen werden.

(w.g.)
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