Die Geschichte einer Schlaganfall-Patientin Plötzlich Pflegefall

Düsseldorf · Der Schlaganfall ereilte Helga vor 14 Jahren auf einem Parkplatz. Danach war sie halbseitig gelähmt und auf Hilfe angewiesen. Eine Geschichte darüber, was es heißt, wenn ein Mensch pflegebedürftig wird. Für ihn selbst und für die Menschen, die ihn lieben.

 Den Schlaganfall hatte Helga mit 66, heute ist sie 80. Seit einem Jahr lebt sie im Heim, bis dahin wurde sie zu Hause betreut und versorgt. In Deutschland sind 2,63 Millionen Menschen pflegebedürftig, Tendenz steigend. Helgas Geschichte ist also eine exemplarische.

Den Schlaganfall hatte Helga mit 66, heute ist sie 80. Seit einem Jahr lebt sie im Heim, bis dahin wurde sie zu Hause betreut und versorgt. In Deutschland sind 2,63 Millionen Menschen pflegebedürftig, Tendenz steigend. Helgas Geschichte ist also eine exemplarische.

Foto: jis

Wenn man Helga aufheitern will, muss man ihr sagen, wie alt sie ist: 80. Dann lacht sie, will es nicht wahrhaben. Als in Helgas Gehirn ein Blutgefäß platzte, war sie 66. Es mag sein, dass sie sich bis heute so sieht, weil alles, was danach kam, wenig mit der Person zu tun hat, die sie einmal als sie selbst kannte. Erzählen kann sie es nicht mehr. Der Schlaganfall hat ihr nicht nur ihr altes Ich, sondern auch Bewegungsfreiheit und Sprache geraubt. Er hat Helgas Leben umgekrempelt. Unseres auch.

Wir, Tochter und Schwiegersohn, haben versucht, Helgas Dasein halbwegs erträglich zu gestalten. Wie Millionen andere Menschen es bei ihren kranken Familienangehörigen auch versuchen. Jeden Tag. Das hier ist zwar unsere Geschichte. Aber eben nur eine von vielen. Deshalb erzählen wir sie — stellvertretend. Sie soll zeigen, was es heißt, wenn ein Mensch pflegebedürftig wird. Für ihn selbst und für die Menschen, die ihn lieben und sich um ihn kümmern. Und weil wir Helga nicht mehr fragen können, ob sie einverstanden ist, haben wir ihren (und alle anderen) Namen geändert.

So glücklich und unglücklich wie viele andere Menschen

Vor ihrem Hirnschlag war Helga so glücklich und unglücklich wie viele andere Menschen auch. Sie liebte ihren Garten, schmuste mit ihrem Kater und kochte gerne, vor allem für ihre Kinder und Freunde. Ihr Schweinebraten war legendär, eine Reminiszenz an ihre fränkische Heimat. Sie liebte aber auch Literatur, las sich querbeet durch alle Genres und verpasste niemals ihre Lieblingsserien. "Tatort" zum Beispiel. Oder Rosamunde Pilcher. Ihre Gesundheit interessierte sie weniger.

Als alleinlebende Frau ermahnte sie niemand, zum Arzt zu gehen. Außer uns. Denn es gab Anzeichen. Taubheitsgefühl im Gesicht, allgemeine Benommenheit, vorübergehende motorische Störungen. Aber welche Mutter hört schon gerne auf ihre Kinder? Wäre sie nur zum Arzt gegangen. Hätten wir sie nur mehr bedrängt. Ihr ins Gewissen geredet. Tausendmal haben wir das gesagt. Uns Vorwürfe gemacht. Hinterher. Als es zu spät war.

Der Schlaganfall ereilte Helga im Auto, auf dem Parkplatz eines Baumarktes. Nachdem sie den Wagen gestartet hatte. Der Motor lief und Menschen wurden aufmerksam, irgendwann. Wie lange sie dort saß, ist schwer zu sagen. Sicher aber ist: Wäre es zu Hause passiert, würde sie vielleicht nicht mehr leben. Denn wir waren im Urlaub, in Thailand. Ein paar Tage nach unserer Abreise bekamen wir die Nachricht, natürlich war es ein Schock. Und fast klischeehaft absurd. Palmen, Sonne, Meer, aber wir fragten uns nur: Wird Helga es schaffen? Wie kommen wir schnell nach Hause? Und wie geht es dort weiter? Es gibt Dinge, auf die kann man sich nicht vorbereiten. Ein Schlaganfall trägt seinen Namen nicht von ungefähr; alles ist von einer Sekunde zur nächsten anders. Vor allem natürlich für die Betroffenen. Aber auch für die Angehörigen.

Der Schlaganfall hatte auch ihr Sprachzentrum beschädigt

Helga hatte von Anfang an weder die Worte noch die Fähigkeit, uns zu sagen, wie es ihr geht. Der Schlaganfall hatte sie nicht nur rechtsseitig gelähmt, sondern auch ihr Sprachzentrum beschädigt. Übriggeblieben waren die Worte "Ja", "Nein" und die Unsicherheit, ob wir uns wenigstens darauf verlassen können. Manchmal mehr, manchmal weniger, entschieden wir. Und lernten eine erste Lektion: Der Mensch, den man liebt, ist körperlich zwar noch da, aber das, was ihn ausmacht, sein Wesen, hat sich verändert. Er ist derselbe und ein anderer, das ist das Bittere. Und er ist nur begrenzt zu erreichen. Seine Schmerzen, seine Ängste, seine Sorgen lassen sich nicht mehr besprechen, sondern nur noch lindern. Es ist zu spät, sich Sachen zu sagen, die man immer sagen wollte. Es gibt kein echtes Zwiegespräch mehr. Nur die Hoffnung, verstanden zu werden. Die Zeit der Gewissheiten ist vorbei.

Sechs Monate verbrachte Helga im Krankenhaus und in der Reha, um Beweglichkeit und Sprache wiederzufinden. Vergeblich. Dafür lernten wir etwas über unser Gesundheitssystem, über den Medizinischen Dienst, über Krankengymnastik und Pflegestufen. Bisher gibt es vier, ab 1. Januar 2017 werden es nach dem zweiten Pflegestärkungsgesetz stattdessen fünf Pflegegrade sein, um individueller auf die Bedürftigkeit zu reagieren.

Helga erhielt Pflegestufe zwei. Damals konnte sie noch am Stock ein paar Schritte gehen, bei allem anderen aber brauchte sie Hilfe. Immer. Alleine zu Hause? Unmöglich. "Das geht nicht", sagte der Arzt. "Das schaffen Sie nicht." Aber für Helga gab es zwischen den Alternativen Heim oder Zuhause nur eine Wahl. Was für uns, zwei Vollzeitberufstätige, die Frage aufwarf: Wie lässt sich das organisieren? Und bewältigen?

Eine Haushaltshilfe aus dem Ausland

Zum Beispiel, indem man das Arbeitsamt einschaltet. Was heute einfacher ist, verlangte damals, so neu war die Option, allerdings noch eine gute Portion Beharrungsvermögen. Nach etwas bürokratischem Hickhack vermittelte die Behörde auf Anfrage eine Haushaltshilfe aus dem Ausland, was im Alltag deutlich entlastet und den Patienten ermöglicht, in ihre eigenen vier Wände zurückzukehren. Die Arbeitszeit beträgt acht Stunden pro Tag, das Wochenende ist frei. Alle pflegerischen Aufgaben übernimmt der ambulante Pflegedienst.

Zu uns kam zunächst Valentina aus der Slowakei, eine patente Mittdreißigerin, die für Helga den Haushalt schmiss. Eine Erleichterung, einerseits; auf der anderen Seite waren wir plötzlich Arbeitgeber mit allem, was dazugehört: Lohnsteuer, Krankenkasse, Sozialversicherung. Alles muss für das Finanzamt ausgewiesen werden, und einfacher ist es heute trotz elektronischer Erfassung nicht geworden.

Wer Unterstützung im Behördendschungel sucht, findet sie vielleicht, wie wir, bei seiner Krankenkasse. Oder bei Freunden und in Foren. Der Aufwand lohnt sich: Ohne Valentina und ihre Nachfolgerinnen wäre Helga wohl viel früher im Heim gelandet. Sie schmissen nicht nur den Haushalt, sondern waren auch Kummerkasten, Seelentröster, Freundinnen. Mira aus Polen blieb acht Jahre und war so etwas wie ein Familienmitglied.

"Ja", "Nein", "Schön", "Schrecklich"

Helgas Wortschatz beschränkte sich von Anfang an im Wesentlichen neben "Ja" und "Nein" auf "Schön" und "Schrecklich". Ihre Stimmung schwankte, war aber generell eher düster; die Ärzte verordneten Antidepressiva. Wir versuchten, ihre Laune aufzuhellen, mit Mensch-ärgere-dich-nicht zum Beispiel. Wenn Helga gewann, war der Jubel groß. Sie gewann oft, mit ein wenig Hilfestellung. Sogar das Tricksen hatte sie nicht verlernt. Wollte man mehr von ihr hören als ihre vier Lieblingswörter, musste man mit ihr singen. Oder beten. Dann vollendete sie die Lied- oder Verszeilen. Und freute sich über den Klang der vertrauten, aber selten gewordenen Worte. Am Anfang liebte sie es noch, durch die Gegend gefahren zu werden. Wir kauften einen Wagen, in den der Rollstuhl passte und in den sie mit Hilfe einsteigen konnte. Am liebsten sah sie zu, wenn wir für sie beim Bauern Blumen von der Wiese pflückten.

Helga verbrachte viel Zeit vor dem Fernseher, als sie den Bildern noch folgen konnte. Freunde und Bekannte ließen sich nur selten blicken; sie scheuten es, sich dieser geballten Hilflosigkeit auszusetzen, der von Helga und ihrer eigenen. Denn kaum jemand ist den Umgang mit einem Menschen gewohnt, dem die Worte fehlen. Selbst der eigene Bruder schickte nur noch Briefe, blicken ließ er sich nie. Auch Ärzte reagierten oft ratlos, wenn vor ihnen ein Patient saß, der auf ihre Fragen nicht antworten konnte. An manchen Tagen schürte das die Verzweiflung, bei Helga, aber auch bei uns; ein Zustand, der schwer zu vermeiden, doch wenig zielführend ist.

Ähnliche Aufmerksamkeit wie ein kleines Kind

Ein pflegebedürftiger Mensch verlangt ähnliche Aufmerksamkeit wie ein kleines Kind. Wir haben zwar keine Kinder, aber so ähnlich stellen wir uns das vor. Wurde Helga krank, mussten wir sie zum Arzt bringen. Bekam sie Tabletten verschrieben, mussten wir sie beschaffen. Ging es ihr sehr schlecht, mussten wir den Arzt zum Hausbesuch überreden (nicht immer einfach). War der Rollstuhl defekt, mussten wir einen neuen beantragen (und lernen, damit Hindernisse zu überwinden). Gingen die Windeln zur Neige, mussten wir für Nachschub sorgen.

Wie ein Kind bereitete Helga unliebsame Überraschungen. Stolperte über eine Teppichkante und brach sich den Arm. Fiel aus dem Bett und schlug sich den Kopf auf. Zog sich den Katheter aus der Bauchdecke. Wir begannen, Telefonklingeln zu ungewöhnlichen Zeiten zu misstrauen. Und lernten, im Urlaub das Handy nie auszustellen. Ein Pflegefall nimmt sich keine Auszeit. Meine Frau reduzierte ihre Arbeitszeit, um Kraft zu sparen und Freiräume zu schaffen - für Helga.

So lief es eine Zeit lang. Bis sich die Dinge veränderten. Irgendwann interessierte sich Helga nicht mehr fürs Fernsehen. Ihr Blick schweifte ins Leere. Statt ihren geliebten Kater zu streicheln, wenn er auf ihren Schoß sprang, wurde er nun verscheucht. Unruhig fuhr sie mit dem Rollstuhl im Haus umher, jammerte mal leise, mal lauter. In dem Maße, in dem sie die Kraft zu gehen verlor, wuchs die Anstrengung, sie aus dem Bett und wieder hinein zu hieven. Es wurde schwieriger, Helgas Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken als Essen und Schlafen.

Sie vergaß allmählich das Leben, das ihr geblieben war - ein Schlaganfall kann Demenz auslösen oder fördern. Aber nicht nur das bekannte Umfeld verschwindet allmählich im Nebel, auch der Körper vergisst lebenswichtige Funktionen. Helga zum Beispiel verlernte allmählich das Schlucken. Als sie beim Essen fast erstickte, hielten wir den Zeitpunkt für gekommen, einen Heimplatz zu suchen. 13 Jahre hatte es Helga, gegen die Prognose des Arztes, bis dahin zu Hause "geschafft".

Die Pflege eines lieben Menschen ist Vertrauenssache

Ein Zimmer im Pflegeheim bedeutet jedoch nicht das Ende der Sorgen. Professionelle Hilfe entlastet, das ist wahr. Zu wissen, dass immer jemand aufpasst, der einen geschulten Blick besitzt. Aber eine Unterbringung im Heim verpflichtet auch. Zum Besuch und zur Kontrolle, so oft wie möglich. Im ersten Heim hatte Helga eines Tages blaue Flecken im Gesicht und den Arm geprellt; es hieß, sie sei gestürzt, eine Frau, die ohne Hilfe keinen Schritt gehen kann. Niemand wusste, was geschehen war, nichts war dokumentiert, eine Zeitarbeitskraft im Spätdienst wurde verdächtigt. Es gab wortreiche Beteuerungen und Entschuldigungen, nach denen wir uns trotzdem entschieden, das Haus zu wechseln.

Die Pflege eines lieben Menschen ist Vertrauenssache; wird das missbraucht, gibt es keine Basis mehr. Entsprechend viel Zeit und Aufwand sollte man investieren bei der Suche nach einem Heimplatz, Meinungen einholen, mit Bewohnern sprechen, sich genau umsehen. Die Benotung des Medizinischen Dienstes ist nicht ausschlaggebend, das System lässt schlechte Bewertungen kaum zu. Entscheidend, so banal es ist, sind die Menschen, die im Heim arbeiten. Sie machen den Unterschied, und das eigene Bauchgefühl wird in der Regel den richtigen Weg weisen.

Heute ist Helga gut untergebracht. Sie hat ein schönes, helles Zimmer. Es ist nicht besonders groß, aber das stört sie nicht. Helga lebt in ihrer eigenen Welt. Leider ist es eine, zu der sich nicht immer Zugang finden lässt. Manchmal erkennt sie uns (mich seltener), manchmal nicht; mal ist sie still, mal jammert sie. Helga greift mit einer Hand nach allem, was in ihrer Reichweite liegt, und was sie einmal gepackt hat, lässt sie so schnell nicht mehr los. Sie hat zwar abgenommen, isst aber immer noch gerne und viel, wenn auch nur passierte Kost. Wir sind so oft da, wie es geht. Jetzt, wo sie das Haus aufgeben musste, sind wir so etwas wie das letzte Echo ihres früheren Lebens. Wenn wir zusammen singen, vollendet sie immer noch die Liedzeilen. Und wenn wir Helga sagen, wie alt sie ist, dann schaut sie ungläubig. Auch wir glauben es manchmal kaum. Aber es ist wahr.

(jis)
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