Hodgkin-Lymphom Krebs, der wirkt wie eine Grippe

Frankfurt/Köln · Nach dem Umzug in eine neue Wohnung bekommt Caty Husten. Der Arzt verschreibt der 23-Jährigen gegen die scheinbaren Erkältungssymptome Hustensaft. Doch der hilft nicht. Stattdessen verschlechtert sich ihr Zustand. Ein halbes Jahr später erst weiß sie warum: Ihr Körper kämpft nicht gegen einen Infekt, sondern gegen eine spezielle Krebsform.

 Geschwollene Lymphknoten, Husten und Abgeschlagenheit zählen zu den Symptomen von Lymphdrüsenkrebs.

Geschwollene Lymphknoten, Husten und Abgeschlagenheit zählen zu den Symptomen von Lymphdrüsenkrebs.

Foto: Shutterstock/Image Point Fr

Als Caty mit ihrem Freund nach Frankfurt zieht, stehen die Zeichen gut. Sie hat nach dem Abi eine Ausbildung in ihrer Wunschfirma absolviert, tritt nun ihren ersten Job an und ist rundum zufrieden. Die beiden kaufen eine Wohnung in Frankfurt, in einem Neubau. Das ist im Oktober 2014. Mit dem Umzug bekommt sie plötzlich Husten. Sie kauft sich Hustensaft und denkt, es wird bald besser werden. Doch auch nach dem dritten Saft ändert sich nichts. "Ich dachte, dass ich vielleicht Baustaub eingeatmet habe", sagt sie.

Also soll der Hals-Nasen-Ohrenarzt helfen. Der verschreibt einen weiteren Saft. Mittlerweile ist Silvester. Da bemerkt Caty starke Schmerzen im Brustbereich. Besonders nachdem sie Alkohol getrunken hat. Es dauert nur ein paar Minuten, dann durchbohrt sie auf der linken Seite unterhalb des Schlüsselbeins ein furchtbarer Schmerz, der ausstrahlt. Niemand kann ihn sich erklären.

"Machen Sie sich keine Sorgen"

"Sie sind jung und gesund. Machen Sie sich keine Sorgen", stellt der Arzt fest. Diesen Satz hört die junge Frau in den nächsten Wochen noch einige Male. Doch täuschen sich die Mediziner. Der Schmerz in der Schulter, so weiß sie heute, rührte von ihren entarteten Lymphknoten her. Der Schmerz in der Brust kommt nicht nur von der Lungenentzündung. "Am Hals und im Thoraxbereich waren alle Lymphknoten betroffen. Ein Drittel des Brustbereichs besteht zu diesem Zeitpunkt aus Tumorgewebe", sagt Caty.

Knapp 3000 Menschen erhalten in Deutschland jedes Jahr die Diagnose "Lymphdrüsenkrebs", weltweit sind es 70.000. Meist sind es junge Menschen. "Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 34 Jahren. Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen", erläutert Prof. Andreas Engert. Er leitet die German Hodgkin Study Group (GHSG) an der Uniklinik Köln, die international über 400 Zentren koordiniert, die sich mit dieser speziellen Krebserkrankung beschäftigen und sie therapieren. Insgesamt wurden bislang über 18.500 Patienten mit Hodgkin-Lymphom erfasst und ausgewertet. Caty ist eine von ihnen. Denn auch die Klinik, in der sie behandelt wird, kooperiert mit dem Fachzentrum in Köln.

Krankenwagen kommt — Krankenwagen fährt

In der ersten Januarwoche des neuen Jahres 2015 bekommt die 23-Jährige kaum mehr Luft. Die Situation spitzt sich zu. Ihr Freund ruft den Krankenwagen. Der kommt und fährt wieder. "Sie ließen mir was zum Inhalieren da und meinten, es sei vielleicht eine Bronchitis", erzählt Caty. Der Lungenfacharzt diagnostiziert eine schwere Lungenentzündung und behandelt sie mit Antibiotika und Cortison. Endlich verbessert sich ihr Zustand. Aber nur kurz. Denn das Cortison wirkt positiv auf die Tumore, von denen noch keiner weiß.

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Sie fällt wieder aus an ihrem neuen Arbeitspatz, an dem sie eigentlich durchstarten wollte. Eine zweite Lungenentzündung — diesmal ist auch Wasser in der Lunge. Die Schmerzen in der Schulter wollen nicht nachlassen. Die Odyssee von Arzt zu Arzt geht weiter. Einige Wochen später ist sie um MRT- und CT-Aufnahmen reicher und sitzt erneut beim Lungenfacharzt. Er ist der erste Arzt, der sich zu den Aufnahmen äußert. Als er mitleidig mit Caty über die Diagnose Krebs spricht, bestätigt sich für sie das, was bislang nur eine verdrängte Vorahnung war. "Er wusste nicht, dass ich noch kein Ergebnis habe, als er zum ersten Mal das Wort "Morbus Hodgkin" in den Mund nimmt", erinnert sich die junge Frau. Wie im Traum nimmt sie die klärenden Worte hin. Erst im Auto versteht sie sie und fängt an zu weinen.

Die letzten Teile im Symptompuzzle

Dann geht alles ganz schnell. Zwei Tage später hat sie aufgrund der plötzlichen Diagnose einen Termin im Krankenhaus. Jetzt passen auch in ihrem Kopf alle Symptome ganz logisch zusammen: Schon seit zwei Jahren leidet Caty unter Nachtschweiß. Manchmal so schlimm, dass sie sich mitten in der Nacht umziehen muss.

"Das ist typisch für die sogenannte B-Symptomatik des Hodgkin-Lymphoms. Ebenso wie auch anhaltendes Fieber", erläutert Prof. Engert. Es sind die Symptome, die gemeinsam mit dem anhaltenden Husten und Gewichtsverlust an eine typische Grippe erinnern, aber doch keine sind. Zu den selteneren Symptomen, die auf das Hodgkin-Lymphom hinweisen, zählt der Alkoholschmerz, der die junge Frau stets von ihren Lymphknoten ausgehend nach dem Alkoholgenuss durchfährt .

Eher untypisch hingegen sind die furchtbaren Schmerzen in der Brust, die sie spürt. Denn in der Regel fällt diese Krebsart durch schmerzlose, aber mitunter gummiartig, stark geschwollene Lymphknoten auf. Am häufigsten machen sich die Lymphknoten am Hals so bemerkbar, seltener sind es die oberhalb des Schlüsselbeines, in den Achselhöhlen oder in den Leisten.

Tiefer Einschnitt — Operation vor dem 24. Geburtstag

Einen Tag vor ihrem 24. Geburtstag wird Caty der geschwollene Lymphknoten am Hals entfernt. Es ist der 21. April 2015. "Ich denke darüber nach, dass die Narbe am Hals verlaufen wird und ich, sofern sich die Diagnose also bestätigt, auch im Nachhinein jeden Tag daran erinnert werde, wenn ich in den Spiegel sehe. Sie wird links über meinem Schlüsselbein verlaufen. Dort, wo zur Zeit sicht- und fühlbar, ganz viele Knoten auf einem Haufen sind", so beschreibt sie zwei Tage später in ihrem Blog, in dem sie alle Phasen ihrer Krankheit dokumentiert. Der Eingriff soll nicht nur die Diagnose bestätigen, sondern zudem zusätzliche Informationen für die Prognose bringen.

Als die Ergebnisse schwarz auf weiß kommen, hat Caty ihrem neuen Lebensbegleiter einen Namen gegeben: Der Krebs soll Lilli heißen. Sie möchte es so nicht nur für sich leichter machen, darüber zu sprechen, sondern auch für ihre Freunde. Denn "man braucht seine Freunde. Die sollen keine Angst haben, etwas falsch zu machen", betont Caty im Gespräch mit unserer Redaktion. Das treibt sie an, über ihre Gedanken und Erlebnisse rund um Lilli zu schreiben.

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Foto: shutterstock/ jovan vitanovski

Die Biopsie macht deutlich, dass schnell gehandelt werden muss. Die 24-Jährige hat Lymphdrüsenkrebs in Stadium drei bis vier. Genau bis hierher reicht die Stadienbeschreibung. Die Krankheit ist also fortgeschritten. Rund 30 Prozent der Betroffenen bekommen ihre Diagnose in einer frühen und weitere 30 Prozent in einer mittleren Erkrankungsphase. 40 Prozent stecken wie Caty in einem fortgeschrittenen Stadium. Besonders dann kann der Krebs nicht nur die Lymphknoten betreffen, sondern auch Organe wie die Lunge, Milz, Leber oder das Knochenmark.

Cortison gewährt einige Tage Aufschub

Die Therapie bei Caty verträgt keinen Aufschub mehr. "Die Chemo sollte so schnell wie möglich beginnen, weil die Tumore auf Herz und Lunge drücken. Um die Zeit zwischen den Voruntersuchungen zu überstehen, musste ich Cortison nehmen", erinnert sie sich. Dieser Wirkstoff wird oft im Rahmen der Therapie miteingesetzt. Denn auch Cortison-Tabletten können lymphatische Zellen zerstören und verbessern die Verträglichkeit der Therapie, erläutert der Hodgkin-Experte aus dem Kölner Fachzentrum.

Mit Chemotherapien, Strahlenbehandlung und Medikamenten wie vor allem Brentuximab kann die Medizin das Krebs-Schreckgespenst der jungen Menschen in 80 bis 90 Prozent der Fälle zurückdrängen. Zunehmend setzt dabei die Medizin auf überwiegend medikamentöse Therapieoptionen, die deutlich besser verträglich sind und die Zahl und Intensität der Chemobehandlungen dauerhaft reduzieren könnte.

Das sind die Hoffnungsträger der therapeutischen Zukunft

Was zudem immer mehr in den Fokus der Mediziner rückt, sind späte Nebenwirkungen der Therapie. "Wir sind froh, dass es zielgerichtete Medikamente gibt, die diese reduzieren könnten", sagt Prof. Engert. Neue Hoffnungsträger sind vor allem Arzneimittel wie Nivolumab oder Pembrolizumab, die zu den sogenannten "Checkpoint-Inhibitoren" zählen und im Bereich der Therapie von Lungen- und Hautkrebs bereits erfolgreich eingesetzt werden. "Sie könnten in Zukunft auch Hodgkin-Patienten helfen und die Chancen erhöhen, ganz ohne eine belastende Chemotherapie oder Bestrahlung auszukommen", hofft Engert.

Für die 24-jährige Wahlfrankfurterin Caty hängen die Erwartungen auf Heilung an einer sechszyklischen Chemotherapie. Die steht sie 18 Wochen lang durch. Volles Programm, mit vielen Nebenwirkungen. Auch die präsentiert sie ihren treuen Lesern im Blog. Sie sollen alles wissen. Dann neuerliche Untersuchungen und eine Positronen-Emissions-Tomographie (PET), die die Krankenkasse ihr genehmigt. Der Radiologe drängt auf eine weitere Aufnahme vom Hals. Caty befürchtet das Schlimmste, denn genau dort war der Krebs am stärksten. Wieder banges Warten. Unerträgliche Tage, viele Tränen, vorbereitet auf neue Hiobsbotschaften.

Unerwartete Ergebnisse nach der Chemo

Vor wenigen Tagen dann hält Caty ungläubig neben ihrer Mutter das Papier in der Hand, auf dem ihre nahe Zukunft besiegelt steht: "Größenregredienz der bekannten thorakalen Lymphknotenkonglomerate, aktuell ohne Restvitalität." Ihre Onkologin in Frankfurt übersetzt es für sie: "Das heißt: Sie sind geheilt."

Unfassbar für die junge Frau. Nicht zu verstehen nach all den Erfahrungen und der angekündigten Bestrahlung. Im Hin und Her der Gefühle ist sie sich sicher, dass es gut sein wird, mit der Psychoonkologin das unerwartete Herbeigesehnte zu ordnen. Sie will sich nun in ihr neues Leben zurückkämpfen, dessen Beginn sie am 11. September feiert.

Während sich ihre Freunde unendlich freuen, dass wieder alles normal ist und sie sicher auch bald wieder zurück ins Berufsleben kann, ist das schockierende letzte Jahr für Caty noch lange nicht verdaut. "Oh Gott, ich kann das wieder bekommen", gewährt sie einen kurzen Blick in ihr aufgewühltes Seelenleben. "Jetzt fängt das Schwierigste für mich an: Ich muss weiterleben."

(wat)
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