Diagnose Krebs Was bei einer Operation am Gehirn passiert

Düsseldorf · Bei Armin Ziegler finden Ärzte eine verdächtige Geschwulst im Kopf. Sie muss entfernt werden. Das Besondere: Der Patient ist Musiker. Unser Medizin-Redakteur Wolfram Goertz durfte bei der OP an der Uniklinik Düsseldorf dabei sein.

 Neurochirurgischer Operationssaal in der Düsseldorfer Uniklinik: Prof. Michael Sabel (l.) bespricht mit seinem Team den Eingriff bei Armin Ziegler, der unter den Tüchern liegt.

Neurochirurgischer Operationssaal in der Düsseldorfer Uniklinik: Prof. Michael Sabel (l.) bespricht mit seinem Team den Eingriff bei Armin Ziegler, der unter den Tüchern liegt.

Foto: Andreas Endermann

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch (Hölderlin, "Patmos"). In diesem Fall wächst erst einmal ein Tumor. Es ist Sonntag, 7. August, als Armin Ziegler ein Blatt Papier nicht mehr mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand halten kann. Ein Taubheitsgefühl, das jeder mal erlebt und über das man sich keine Gedanken macht. Geht ja meistens weg.

Auch bei Armin Ziegler geht es weg, doch kehrt es bald zurück. Jetzt pulsieren und zucken die Finger der rechten Hand in einem Rhythmus, den nur sie zu kennen scheinen, und bald kribbelt auch die rechte Gesichtshälfte. Es ist wie ein Anfall, der sich steigert und urplötzlich abbricht. Ziegler ist zudem schwindelig. Jetzt wird ihm die Sache unheimlich, und er geht zum Hausarzt. Der schickt ihn zum Neurologen, der Termin ist eine Woche später.

 Am Tag vor der Operation: Patient Armin Ziegler (M.) mit den beiden Neurochirurgen Marion Rapp und Michael Sabel.

Am Tag vor der Operation: Patient Armin Ziegler (M.) mit den beiden Neurochirurgen Marion Rapp und Michael Sabel.

Foto: Andreas Bretz

Armin Ziegler ist ein Düsseldorfer und neigt nicht zum Dramatisieren, es ist ja auch erst einmal Ruhe mit den Symptomen, das Leben geht weiter, es gibt wichtigere Dinge. Etwa seinen Geburtstag einige Tage später, den er gemütlich ausklingen lassen möchte. Es ist Donnerstag, 11. August, Ziegler ist jetzt 49 Jahre alt, er holt sich sein Lieblingsgericht beim Thai-Imbiss sowie einen alkoholfreien Hugo und Chips im Supermarkt.

Nach dem Essen überfällt Ziegler der nächste Anfall. Jetzt kann und will er nicht mehr warten. Sein Vater, den er voller Unruhe angerufen hat, bringt ihn in die Uniklinik. Dort stellen ihn die Neurologen in der Notfallambulanz auf jenen Kopf, in dem etwas nicht richtig zu funktionieren scheint. Vor allem ordnen sie ein CT des Schädels an, und auf den Bildern sehen sie dann in der linken Gehirnhälfte eine "Raumforderung". Das ist ein Sicherheitsausdruck der Medizin, die sich mangels genauerer Befunde vorerst nicht festlegen kann, worum es sich hier handelt. Die Ärzte sehen nur, dass da im Kopf etwas sitzt, das zu Zieglers Symptomen passt. Damit wird Armin Ziegler in dieser Nacht zum Fall für die Neurochirurgie.

Es ist schnell klar, dass man Ziegler bald operieren muss. Dafür sind in der Düsseldorfer Uniklinik Professor Michael Sabel und seine beiden Oberarzt-Kollegen Marion Rapp und Marcel Alexander Kamp zuständig. Sabels Türschild benennt die Abteilung, die er leitet, und wer das Schild erstmals liest, kommt unweigerlich auf ungute Gedanken: "Neuroonkologie". Da schwingt und schwebt alles mit, vor allem das Damoklesschwert. Ob man will oder nicht, dieses Schild konfrontiert den Patienten mit der Möglichkeit seines Todes. Für Laien gelten Hirntumoren als unbeherrschbar, was meist gar nicht der Fall ist.

Selbst die gefährlichen Glioblastome, deren Krebszellen sich schnell vermehren, lassen sich von einem erfahrenen Chirurgen gut entfernen; damit gewinnt der Patient Lebenszeit. Aber es muss auch alles zusammenpassen, alle Laborbefunde müssen stimmen, und vorerst ist Armin Ziegler kein Notfall, für den man von jetzt auf gleich ein OP-Team zusammentrommelt. Deshalb hat er einige Tage Zeit, drängende Termine zu erledigen. Man könnte in dieser Lage ein Testament verfassen, seine Liebsten versammeln. Oder beten.

Ziegler nimmt hingegen für Youtube ein Lied auf, und zwar Christina Aguileras "Change". Vor langem hat er sich in den Fächern Tanz und Gesang ausbilden lassen und erlebt als Musiker eine feine Karriere. Jetzt singt er ohne Band, ohne Hintergrundsound. Stimme pur. Diese Aufnahme ist wichtig für ihn. Aber auch die Neurochirurgen interessiert sie, denn sie möchten, dass der Musiker nicht nur die Geschwulst im Kopf verliert, sondern weiter als Musiker arbeiten kann.

 Gut zu erkennen: die suspekte "Raumforderung" in Armin Zieglers Gehirn.

Gut zu erkennen: die suspekte "Raumforderung" in Armin Zieglers Gehirn.

Foto: UKD

Dazu benötigt er seine Stimme, seine Hände — und für beide braucht er sein Gehirn. Das Ding im Kopf sitzt aber nah an relevanten Strukturen für die Motorik. Wenn man da ungeprüft in sensible Bereiche vordringt und etwas entfernt, könnte der Musiker im Patienten von jetzt auf gleich seine Kunst nicht mehr ausüben.

In diesem Moment entscheiden sich Sabel, Rapp und Kamp, den Autor dieser Zeilen anzurufen. In einem Nebenberuf arbeitet er in der Musikerambulanz der Düsseldorfer Uniklinik, wo ein interdisziplinäres Team erkrankte Musiker behandelt. Ziegler ist ein Sonderfall, den man methodisch planen und doch experimentell lösen muss. Vor der Operation ist zu prüfen, wie gut Ziegler singt, wie kontrolliert seine Technik ist, ob er Intervalle reproduzieren kann, ob er Text von der Musik trennen und die Melodie auch nur summen kann. All dies wird er in der Operation wiederholen müssen, immer wieder, denn die Operateure werden ihn aufwecken und wach halten, während sie arbeiten, denn sie müssen ja gucken, was er kann.

Wir befinden uns in einer schwierigen Lage, denn noch weiß keiner, was in Zieglers Hirn los ist. Es könnte sich um einen hirneigenen Tumor handeln, der bestenfalls langsam, schlimmstenfalls schnell wächst. Es könnte sich als die Metastase eines Krebsherdes im Körper herausstellen, den man noch gar nicht gefunden hat. Und der Tumor könnte ein Abszess sein, ein entzündlicher Vorgang. Das aber ist unwahrscheinlich. Armin Ziegler ist jedoch in einer fast schon gelassenen Stimmung, er fühlt sich hier gut aufgehoben, und er weiß, dass in den Stunden der Operation viele Menschen an ihn denken werden.

Ziegler weiß auch von meinem Doppelberuf, und als er die Frage hört, ob er einverstanden sei, dass da einer in grüner OP-Kluft mitwirkt, der an anderen Tagen als Redakteur arbeitet, antwortet Ziegler wie aus der Pistole geschossen: Ja, und er soll gern über die Operation schreiben. Er entbindet mich von der Schweigepflicht. Dafür bekommt er den Text vorher zu lesen. Und darf jederzeit von der Verabredung zurücktreten.

Ziegler ist am Morgen des Eingriffs überraschend ruhig. Von dieser neurochirurgischen Autobahn heute gibt es aber auch keine Ausfahrt mehr. Sabel und Rapp, die er seine "Kopilotin" nennt, operieren. Maria Smuga fährt live die elektrophysiologische Diagnostik — sie sagt dem Team, wo im Körper was krampft, zuckt, flammend hochschießt, stockt, wenn Sabel mit der Sonde ein Gehirnareal testet.

Ziegler liegt inmitten einer gewaltigen Anordnung von Apparaten auf seiner rechten Körperseite. Die Technik hilft, mögliche Ausfälle mit der Sonde zu simulieren. "Kortikale und subkortikale Stimulation" heißt das. Weiter helfen als OP-Schwestern Indira Kurtovic und Milena Schall mit. Ein Anästhesist überwacht Zieglers Vitalfunktionen.

Dann geht es los, doch unaufregend. Rapp sägt ein Loch in die Schädelkalotte. Darunter kommt es zum Vorschein: Zieglers Gehirn. Hier sitzt im Untergrund der Tumor. Irgendwann wird der Patient extubiert, denn nun soll er singen und uns zeigen, ob mit Defiziten zu rechnen ist, wenn Sabel Teile des Gehirns abtrüge. Nach kurzem Räuspern klappt das Singen wunderbar. Immer wieder trägt er "Change" vor, einmal nur gesummt, dann nur mit Text. Dann muss er wieder von eins bis zehn zählen. Einmal fällt für Sekunden die Zunge aus, später kann er seine Hand für kurze Zeit nicht zur Faust schließen; all dies protokolliert Jasmin Weber, Sabels studentische Hilfskraft.

 Maria Smuga kontrolliert die elektrischen Ströme im Gehirn und überwacht die Stimulationen einzelner Gehirnbereiche.

Maria Smuga kontrolliert die elektrischen Ströme im Gehirn und überwacht die Stimulationen einzelner Gehirnbereiche.

Foto: Endermann Andreas

Bald hat Sabel den Tumor vor sich, den er mit Ruhe und Professionalität abträgt. Armin Ziegler singt gottergeben weiter. Teile der Geschwulst werden zur sofortigen Befundung in die Institute für Neuropathologie und Mikrobiologie gebracht. Derweil kommuniziert Sabel über ein Mikrofon mit Studenten und jungen Ärzten in einem nahen Konferenzraum; über einen Monitor erleben sie die Operation live mit. Modernstes Training.

Irgendwann muss die Prozedur abgebrochen werden, Ziegler wird müde. Sabel hat aber für den Moment genügend Tumormasse entfernt. Immerhin ist es Ziegler geglückt, dass ein ganzer OP-Saal der Uniklinik Düsseldorf für Sekunden seine Melodien mitsummt.

Und dann ruft die Mikrobiologie an, im Sinne Friedrich Hölderlins die Rettende in höchster Gefahr. Man habe einen bakteriellen Keim gefunden, es ist kein Krebs, sondern ein heilbarer Abszess, gegen den es Infusionen gibt. Für Armin Ziegler ist das jetzt ein bisschen wie Ostern. Am nächsten Tag berichtet er, neulich habe er eine Zahnentzündung gehabt. Die wird die Ursache gewesen sein, solche Fälle gibt es immer wieder. Kein anderer Infektionsherd im Körper kommt infrage.

Armin Ziegler hat gewaltiges Glück gehabt. Das wird ihm umso klarer, als er andere Patienten auf seiner Station kennenlernt, die eine schlechtere Prognose haben als er und für die es hier trotzdem fast immer eine therapeutische Antwort gibt. Demütig macht ihn das. Zugleich könnte er jetzt auch Leonard Cohens "Hallelujah" singen. Die Stimme, die Musikalität und den Anlass für diese Hymne hat er.

Armin Ziegler hat alle diese Zeilen gelesen und genehmigt. Sie beschreiben die Tage, an denen er sich um sein Leben sorgte und an denen es neu begann.

(w.g.)
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