Rätselhafte Amnesie Brite verliert sein Gedächtnis beim Zahnarzt

London · Es ist eine Routinebehandlung, die einen in Deutschland stationierten Briten zum Zahnarzt führt. Nach der Wurzelbehandlung jedoch ist für den 38-Jährigen nichts mehr wie vorher. Seit zehn Jahren wacht er seitdem jeden Morgen auf und denkt, er stehe vor der Zahnbehandlung. Denn seit seinem Arztbesuch leidet er an einer ungewöhnlichen Amnesie.

Mit dem Zahnarztbesuch endet im Jahr 2005 jede Erinnerung eines Briten.

Mit dem Zahnarztbesuch endet im Jahr 2005 jede Erinnerung eines Briten.

Foto: Shutterstock/Eva Vargyasi

Als William O. am 14. März 2005 zum Zahnarzt geht, ist er etwas angespannt. Ihm steht eine Zahnwurzelbehandlung bevor, nicht angenehm, doch die einzige Möglichkeit seinen Zahn zu retten. Niemand könnte zu diesem Zeitpunkt auf die Idee kommen, dass der Arztbesuch zwar den Zahn rettet, doch beinahe sein ganzes bisheriges Leben auslöscht. Denn wenige Stunden später verlässt William O. die Praxis im Rettungswagen und in Begleitung seiner herbeigerufenen Frau.

Er kann sich weder daran erinnern, eine 40-minütige Zahnwurzelbehandlung überstanden zu haben, noch an alle anderen Ereignisse in den Räumen des Arztes. Im Krankenhaus stellen die Ärzte fest, dass nicht mehr als jeweils die letzten zehn vergangenen Minuten kurz in seinem Gedächtnis abgelegt sind, bis auch sie wieder verschwinden. Denn der Brite hat sein Kurzzeitgedächtnis verloren und mit dem die Fähigkeit, sich an Ereignisse in der Vergangenheit zu erinnern.

Das seltsame Vergessen des Henry Gustav Malaison

In einer Fallstudie beschreibt der britische Neuropsychologe Dr. Gerald Burgess diesen ungewöhnlichen Fall von anterograder Amnesie. Ausgelöst wird sie oft durch einen Unfall. Manchmal ist in der wissenschaftlichen Literatur der Zusammenhang mit tiefen Traumata genannt. Betroffene, die an dieser besonderen Form des Vergessens leiden, können sich weder merken, wo sie sich gerade befinden, noch wer vor wenigen Minuten gemeinsam mit ihnen gegessen hat.

Neuroforscher führen das auf einen Schaden in den Schläfenlappen oder dem Zwischenhirn zurück. Die beiden Hippocampi, wie die Schläfenlappen auch genannt werden, sind Teil des Gehirns. In ihnen wird nicht nur das Gedächtnis abgelegt ist, sondern dort findet auch das Lernen statt. Was geschehen kann, wenn dieses Hirnareal ausfällt, wurde erstmals im Jahr 1953 beobachtet.

Ärzte unternahmen den Versuch, dem 27-jährigen Henry Gustav Malaison durch eine Hirnoperation wieder zu einem geordneten Leben zu verhelfen. Der junge Mann litt an einer schweren Epilepsie, die sich auch medikamentös nicht einstellen ließ. Sie bohrten ihm zwei Löcher in den Schädel und entfernten beidseitig einen Teil des Schläfenlappens. Zwar wurden danach die epileptischen Anfälle weniger, doch zahlte Malaison dafür einen hohen Preis: Er verlor weite Teile seines autobiographischen Wissens und blieb mit seiner Erinnerung im Jahr seiner Operation stehen.

Amnesie und was sie bedeutet

Ebenso wie nun William O., bei ihm allerdings, so mutmaßen Neurowissenschaftler, die sich mit seinem Fall befassen, könnte die Amnesie durch eine ungeklärte Wirkung des Lokalanästhetikums hervorgerufen sein. Seit jener verhängnisvollen Zahnbetäubung ist für den Briten die Zeit stehen geblieben. Mit weitreichenden und kaum vorstellbaren Konsequenzen. Denn durch die Erinnerung definiert sich das Selbst jedes Menschen. Von ihr hängt mit ab, wie wir in der Welt zurechtkommen. Denn in ihr ist abgelegt, wie wir zu wem stehen und was uns miteinander verbindet.

Für den Briten, sind diese Zusammenhänge verloren. Vor dem Zeitpunkt, an dem sein Hirn leer radiert wurde, war er als Mitglied der britischen Streitkräfte war er in Deutschland stationiert. Morgens hatte er sich die Zeit bis zum Besuch des Zahnarztes verkürzt, indem er Sport trieb. Ein Abstecher führte ihn in sein Büro, er checkte seine Mails und machte sich dann auf den Weg zu einer Zahnarztpraxis für Wurzelkanalchirurgie.

"Ich erinnere mich daran, mich in den Zahnarztstuhl zu setzen und daran wie der Zahnarzt die lokale Betäubung setzt", erklärt William O. gegenüber dem Sender BBC. Dann endet seine Erinnerung. Was kommt, ist ein Filmriss, der auch zehn Jahre später noch andauert. Er weiß nicht, dass er längst nicht mehr in Deutschland stationiert ist und gemeinsam mit seiner Frau in seinem Elternhaus lebt. Jeden Tag aufs Neue sie es, die ihm erklärt, wie lange der Umzug schon zurückliegt und dass seine Kinder längst erwachsen sind.

Neurowissenschaftler suchen Spuren zurück in die Erinnerung

Alle Erlebnisse, die länger zurückliegen als 90 Minuten verschwinden so langsam aus seinem Kopf, als seien sie mit Zaubertinte hineingeschrieben, die von Minute zu Minute an Deutlichkeit verliert. Jeden Morgen seines Lebens wird er wach und denkt, er müsse zum Zahnarzt. Der, so beschreibt er das, was in ihm vorgeht, habe zwar seinen Zahn gerettet, aber ihm sein Leben geraubt hat. Seitdem versuchen Neurowissenschaftler zu entschlüsseln, was in seinem Hirn geschehen ist.

Sie finden keine Hinweise in der Zeit vor und während des zahnmedizinischen Eingriffs. Für den Zahnarzt wirkt sein Patient vergleichbar wie andere Patienten in dieser Situation. Erst als die Behandlung abgeschlossen ist und man William O. bittet, eine dunkle Brille, die er während der Zahnbehandlung getragen hat, abzunehmen dämmert dem Praxispersonal, dass etwas nicht stimmt. William O. sitzt bleich auf dem Stuhl und starrt mit leblosen Augen vor sich hin. Er ist kaum in der Lage aus dem Zahnarztstuhl aufzustehen. Als seine Frau eintrifft, wirkt der junge Brite erstaunt, sie zu sehen. Gemeinsam treten sie mit einem Rettungswagen die Fahrt in ein Krankenhaus an.

Nicht alles ist gelöscht

Doch auch dort lässt sich das Rätsel um das plötzliche und einschneidende Vergessen nicht lösen. Die Mediziner vermuten zunächst, eine durch die Betäubung ausgelöste Hirnblutung sei für den Zustand des Mannes verantwortlich. Doch sie finden keine Belege für eine solche Schädigung. So ist er zwar beispielweise in der Lage, komplexe Aufgaben zu lösen, wie den Ausgang aus einem Labyrinth zu finden und wird bei aufeinander folgenden Versuchen immer schneller im Lösen dieser Aufgabe, Doch nur einen Tag später ist es, als sehe er das Labyrinth zum ersten Mal in seinem Leben.

Es bereitet ihm keine Probleme, eine Liste von Wörtern zu lernen. Selbst 90 Minuten nach dem Lernen kann William O. sie ohne Probleme aufsagen, doch nur fünf Minuten später kann er kein einziges mehr fassen. Was er aber noch genau weiß, ist wie der Tag seines Zahnarztbesuches begann, er sich auf den Weg zur Praxis machte und auf dem Behandlungsstuhl Platz nimmt.

Auslöser für Amnesie

Da die Forscher eine Hirnverletzung ebenso wie ein Trauma als Auslöser für die Amnesie ausschließen, diskutierten sie, ob möglicherweise die Betäubung beim Zahnarzt der Trigger für eine Mangelversorgung des Hirngewebes gewesen sein könnte, die sich dauerhaft auf die Synapsen im Hirn ausgewirkt haben könnten.

Es gibt nur ein Ereignis, das sich der Brite auch nach Einsetzen seiner Amnesie merken kann: Es ist der Tod seines Vaters im Jahr 2005. Zwar verschwimmen auch hier die Details, doch das Ereignis an sich scheint wie eingebrannt in seine Erinnerung.

Hierfür allerdings können die Wissenschaftler eine Erklärung finden. Da solche Erlebnisse einschneidend emotional sind, wird dadurch im Gehirn der sogenannte Mandelkern angesprochen. Von dort aus sei das verwobene Überleiten ins Langzeitgedächtnis offensichtlich möglich.

Das gibt William O. ein wenig Hoffnung. Denn wenn er sich auch das Alter seiner heute 18 und 21 Jahre alten Kinder nicht merken kann, so hofft er doch, sich eines Tages an die Geburt seiner Enkelkinder zu erinnern.

(wat)
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