Auf der Rolle

Rollatoren sind aus dem öffentlichen Leben nicht mehr wegzudenken. Vielen Menschen ermöglichen sie eine neue Mobilität. Allerdings bergen sie auch Gefahren.

Der mythische Held Ödipus war in einer Zeit unterwegs, da es noch keinen Rollator gab. So hatte er keine Mühe, das Rätsel der Sphinx zu lösen. Es lautete: "Was ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig?" Ödipus wusste korrekt zu entgegnen: "Du meinst den Menschen, der am Morgen seines Lebens, solange er ein Kind ist, auf zwei Füßen und zwei Händen kriecht. Ist er stark geworden, geht er am Mittag seines Lebens auf zwei Füßen. Am Lebensabend, als Greis, bedarf er der Stütze und nimmt den Stab als dritten Fuß zu Hilfe." Der Ödipus von heute sähe keinen Gehstock mehr. Wir leben im Zeitalter des Rollators.

Unser öffentliches Leben ist nicht mehr denkbar ohne diese fahrbare Gehhilfe, die vor knapp 100 Jahren in der Fachliteratur aktenkundig wurde. In der von Heinrich Jakob Bechhold herausgegebenen Zeitschrift "Die Umschau" wurde im Jahr 1916 erstmals ein "lenkbares 'Gehrad'" für Erwachsene beschrieben und abgebildet. Es verfügte über drei Räder, einen Lenker mit Handgriffen und zwei Unterarmstützen. Seither wurde der Rollator zahllose Male überarbeitet, modifiziert und erweitert; es gibt ihn in einfachen und luxuriösen Versionen, alle meist mit vier Rädern.

Vor allem hat er seinen Fluch verloren. Früher galt als gebrechlich und fast hinfällig krank, wer mit einem solchen Hilfsmittel unterwegs war. Mittlerweile hat sich die Gesellschaft an die Geräte gewöhnt; von Ärzten werden sie ja auch immer häufiger verschrieben. Wer am Rollator geht, hat einen sicheren Stand, wird vorerst nicht bettlägerig und genießt alle Vorteile eines TÜV-geprüften Rollwagens. Den kann man zum Sitzen nutzen. Mit ihm kann man einkaufen. Er bietet Halt, damit man nicht auf die Nase segelt. Mit ihm bewahrt man sein Gleichgewicht. Er nimmt die Angst vor dem Laufen, wenn es vorübergehend oder dauerhaft schwerfällt; wenn man sich unsicher fühlt und schnell schlappmacht; wenn das Reaktionsvermögen eingeschränkt ist. Wenn sich nach einem Bruch etwa des Oberschenkelhalses das Gehen wieder stabilisieren soll.

Man sieht: Der Rollator ist nicht zwingend das erste Zeichen des Siechtums; mancher benötigt ihn nur einige Wochen und Monate und kann ihn dann wieder in die Garage stellen. Mancher nutzt ihn länger, einfach aus Bequemlichkeit und weil er sich so wunderbar an ihn gewöhnt hat. Für manchen ist er vor dem Körper auch der Gegenspieler des "Hackenporsches", jenes Einkaufstrolleys, mit dem sich Wasserflaschen und Bananenstauden hinterrücks nach Hause rollen lassen.

Der Rollator kann viel, ist aber kein Universalgerät

Man könnte meinen, der Rollator sei ein Universalgerät, das in jeder Lebenslage Hilfe bietet. Das ist aber nicht der Fall. Beide Beine des Nutzers müssen voll belastbar sein, denn die (teilweise) Entlastung eines Beines oder Fußes ist mit dem Rollator nicht möglich, da er rollt und nicht abgehoben wird. Zudem müssen die Schultergelenke stabil sein, dort darf der Fahrer nun eben keine Fraktur auskurieren.

Aber die Vorteile sind schon eklatant, allein dadurch, dass der Rollator rollt. Er muss nicht angehoben werden. Dank flexibler Rollen fährt er auch im Kreis, was bei historischen Modellen fast ein Ding der Unmöglichkeit war. Viele Senioren genießen vor allem die Möglichkeit, dass sie sich hinsetzen können. Das übrigens scheint zuweilen gar nicht so einfach. Als Parkhilfe ein Tipp von Christiane Keller, Physiotherapeutin am Universitätsklinikum Düsseldorf: "Man sollte den Rollator vorwärts bis an eine Wand fahren, dann die Bremsen feststellen - und sich dann erst hinsetzen." Tatsächlich ziehen sich manche Leute einen Bruch dadurch zu, dass sie auf ihrem ungenügend gesicherten Rollator umkippen und stürzen.

Und noch ein Rat der Expertin: "Man sollte den Rollator nicht gekrümmt oder wie einen Einkaufswagen vor sich herschieben, sondern möglichst aufrecht zwischen den Griffen gehen, also die Schultern über den Handgelenken haben." Gewiss ist es möglich, sich den Rollator einfach zu besorgen und loszufahren, doch schlau ist das nicht. Keller: "Die Einweisung durch geschultes Personal oder einen erfahrenen Physiotherapeuten ist wichtig."

Die Zeiten, dass ein Rollator ein unbewegliches Monstrum war, das dem Schwerlastverkehr zuzuordnen war, sind gottlob vorbei. Moderne Geräte sind leicht und lassen sich bequem verstauen (etwa im Auto oder Taxi). Im Treppenhaus sind sie allerdings ziemlich sperrig, weswegen man sie bisweilen im Hausflur geparkt sieht. Hausnachbarn, denen Rollatoren im öffentlichen Erdgeschoss ein Dorn im Auge sind, weil sie ihr eigenes Fahrrad dort nicht parken dürfen, sollten die aktuelle Rechtsprechung zur Kenntnis nehmen: Rollatoren dürfen da - zusammengeklappt! - parken.

Bei vielen Krankheiten wird er auf Rezept verschrieben

Es gibt viele Krankheiten, bei denen ein Rollator auf Rezept verschrieben wird; fast alle zählen zum Kanon der geriatrischen Erkrankungen. Er reicht von der Herzinsuffizienz, also einer Pumpstörung des Herzmuskels, bis zur chronischen Lungenkrankheit COPD, bei der die Betroffenen oft atemlos sind. Bei einem Hüftbruch verbessert sich das Gangbild durch einen Rollator meist sehr schnell und nachdrücklich; allerdings tritt nicht selten eine Gewöhnung ein, die die Ärzte vermeiden möchten. Denn die Kranken sollen ja schnell wieder lernen, freihändig zu laufen. Zu langer Gebrauch des Rollators ist in solchen Fällen ungünstig.

Allein im vergangenen Jahr wurden Rollatoren in Deutschland im unteren sechsstelligen Bereich rezeptiert, genaue Zahlen gibt es indes nicht. Rechnet man jene Gehhilfen hinzu, die es längst rezeptfrei für kleines Geld in Discountern wie Lidl oder Aldi gibt, so kommen wir auf einen gigantischen Fuhrpark, der hierzulande im rollenden Einsatz ist. Doch unbegrenzt ist er nicht geeignet: Bei massiven neurologischen Störungen oder schweren Instabilitäten ist der Rollator verboten. Er verhindert ja auch nicht das Stürzen in jedem Fall. Keller: "Ein gewisses Maß an Rumpfstabilität und Gleichgewicht muss vorhanden sein. Und wer sich mit vollem Körpergewicht auf ihn stützt, der riskiert, dass der Rollator umkippt."

Manchmal gibt der Rollator

ein falsches Gefühl von Sicherheit

Tatsächlich birgt der Rollator viele Tücken. Thomas Brandt vom Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum in München sagt: "Das Gehen mit Rollator ist ein ganz ungewöhnlicher, gestützter Gang, wie mit einem dritten Bein. Und wenn das weggenommen wird, steigt die Sturzgefahr." Ellen Freiberger von der Bundesinitiative Sturzprävention sagt es noch drastischer: "Vorsicht vor Rollatoren! Sie geben ein Gefühl der Pseudosicherheit. In Wirklichkeit steigt durch Gehhilfen, zu denen auch der Rollator gehört, die Gefahr eines Sturzes." Die britische Gesellschaft für Geriatrie zählt gerade die Nutzung eines Rollators zu den Risikofaktoren für Stürze. Um so wichtiger, dass man vorher eine Fahrschule absolviert hat.

Trotzdem ist der Rollator für viele ein Segen. Er ist kein Signal der Gebrechlichkeit, sondern der Ungebundenheit. Zu dieser Freiheit zählt aber auch das Wissen um den rechten Moment, sich wieder von ihm zu trennen. Wer nicht auf ihn verzichten kann, sollte sich zwei Exemplare gönnen: einen für draußen und einen für die Wohnung. Und noch ein Tipp: In den Korb am Rollator gehört alles, nur nicht die Handtasche. Die Polizeiberichte zu Diebstählen aus Rollatoren könnten, würde man sie bündeln, täglich einige Spalten dieser Zeitung füllen.

(w.g.)
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