Stenografen im Bundestag So schreibt man 400 Silben pro Minute

Berlin · Im Hintergrund und doch mittendrin: Seit 65 Jahren schreiben Stenografen alle Reden von Politikern im Bundestag mit. Die Schreibkünstler sind immer noch unabdingbar.

 So sieht das Orginal-Stenogramm einer Agenda-Rede des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder im Bundestag aus.

So sieht das Orginal-Stenogramm einer Agenda-Rede des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder im Bundestag aus.

Foto: dpa, gam

631 Abgeordnete sitzen im Bundestag, Bärbel Heising weiß zu jedem Gesicht den Namen. Es gehört zu ihrer Arbeit, es ist sogar die Voraussetzung. Heising begann vor 28 Jahren als Stenografin im Bundestag. Die Schreibkünstler müssen alles, was gesagt wird, mitschreiben und sichern. Wie Vokabeln lernen sie deshalb zu Beginn einer jeden Legislaturperiode die Namen der Abgeordneten. "Schließlich haben wir in unserem Haus eine sehr lebendige Debattenkultur", sagt sie.

 Die Chefin der Stenografen im Bundestag, Bärbel Heising, steht auf der Besuchertribüne des Parlaments.

Die Chefin der Stenografen im Bundestag, Bärbel Heising, steht auf der Besuchertribüne des Parlaments.

Foto: dpa, gam

Jeden Einwurf, jeden Applaus, jedes Lachen müssen Heising und ihre knapp 30 Kollegen exakt zuordnen, an die richtige Stelle platzieren. Stenografen schreiben alles mit, was im Plenum gesprochen wird - seit der ersten Rede im Bundestag vor 65 Jahren. Damit auch wirklich nichts durchrutscht, arbeiten die Stenografen mit doppelter Absicherung: Von der Besuchertribüne im Bundestag aus links sitzt ein Stenograf, der nach fünf Minuten von einem Kollegen abgelöst wird.
Der zweite Stenograf schreibt je für 30 Minuten mit. Er bekommt dadurch den größeren Gesamtzusammenhang mit.

"Das System funktioniert wie eine Schweizer Präzisionsuhr", sagt Heising. Keine Sekunde einer langwierigen Debatte dürfen die Stenografen verpassen. An einem Sitzungstag sind alle 16 Stenografen im Einsatz, dazu kommen acht Revisoren. Sie lesen die Protokolle gegen und korrigieren, wenn nötig. Zwei Schlussredakteure geben den Texten den finalen Schliff.

400 Silben pro Minute

Die 53 Jahre alte Heising stenografiert alles, auch privat - bis auf ihre Einkaufsliste. "Sonst müsste ich ja selbst einkaufen gehen", scherzt sie. Ansonsten ist Zurückhaltung angesagt. "Zu unserer Arbeit gehört, nicht groß aufzufallen", sagt Heising. Das heißt: Anzug und Krawatte für Männer, Hosenanzug oder dezentes Kostüm für Frauen.

400 Silben pro Minute und mehr schaffen geübte Stenografen. Mit Füller, Kuli oder Bleistift kritzeln die Schreibkünstler ihre Notizen auf spezielles, sehr glattes Papier. Es gibt Zeichen für Konsonanten, typische Buchstabenfolgen oder oft genutzte Wörter. Großbuchstaben, Dehnungsbuchstaben und doppelte Buchstaben haben im Alphabet der Stenografie keinen Platz. Ein zusätzliches Mittel sind dicke und dünne Striche sowie Hoch- und Tiefstellungen, wird auf der Internetseite des Verbands der Parlamentsstenografen erklärt.

Die eigentliche geistige Arbeit beginnt dann aber im Büro. Hier wird das Stenogramm in ein Redeprotokoll in normaler Schrift umgeschrieben und redigiert. "Wir übersetzen den Text vom Gesprochenen ins Geschriebene und verfassen einen druckreifen Text", erklärt Heising. Fundstellen von Gesetzestexten und Zitate müssen nachgeprüft und Versprecher korrigiert werden: Aus dem Halbsatz "die Arbeitslosen halbieren" wird "die Zahl der Arbeitslosen halbieren".

Dialekte machen Mühe

Außerdem achten sie auf einheitliche Schreibweisen und entwirren Wortgirlanden mit Punkten und Kommata. Mühe verursachen den Stenografen Dialekte. Vor Jahren musste sogar einmal die Bundestagspräsidentin in die Rede eines bayerischen Abgeordneten eingreifen, weil - vermutlich nicht nur die Stenografen - nichts mehr verstanden, berichtet Heising.

An manchen Tagen verlässt Heising ihr Büro nach dem finalen Gegenlesen, der Schlussredaktion, erst gegen zwei Uhr in der Nacht. Wenige Stunden danach finden die Abgeordneten das fertige Debattenprotokoll schon im Internet. Sie brauchen es für die Vorbereitung von Reden und Plenarsitzungen. Auch von jeder Sitzung in Untersuchungsausschüssen wird ein Stenoprotokoll angefertigt.

Langweilig werde die Arbeit nie, "immer neue Regierungen, ständig wechselnde Themen". In dem guten Vierteljahrhundert im Bundestag hat Heising einiges erlebt. "Kürzlich haben wir die erste Rede stenografiert, die von einem Tablet abgelesen wurde", sagt sie.

Angst, dass ihre Dienste irgendwann nicht mehr benötigt werden, hat Heising nicht. "Die geistige Durchdringung der Texte kann kein Computer ersetzen", erklärt sie. In einer Debatte zum Euro-Rettungsschirm wurde von der Fraktion der Grünen kürzlich ein löchriger Regenschirm aufgespannt. "Das hätte keine Tonaufzeichnung und keine Spracherkennung festhalten können."

Keine Nachwuchssorgen

Trotz zunehmender Politikverdrossenheit in der Bevölkerung haben die hoch qualifizierten Bundestagsstenografen keine Nachwuchsprobleme. "Der Bundestag ist im Grunde die Bundesliga", sagt Bärbel Heising. Sie selbst hat "Steno" als 13-Jährige in einem Kurs an der Volkshochschule gelernt.

Ein Studium ist Voraussetzung für den Stenografenberuf. "Die Studienwahl ist vollkommen freigestellt", sagt Heising. Ihr Referat beschäftigt viele Quereinsteiger ganz unterschiedlicher Studienrichtungen. Schließlich müsse die politische Themenvielfalt so gut wie möglich abgedeckt sein.

Außerdem sollten sich potenzielle Bewerber schnell in neue Themen einarbeiten können. Vor jeder Debatte müssen Sitzungsunterlagen studiert und die aktuelle Tagespolitik verfolgt werden. Ein gutes Verständnis für die Feinheiten der deutschen Sprache ist ebenso unabdingbar. Es winkt eine Verbeamtung, das Gehalt ist mit dem eines Gymnasiallehrers vergleichbar.

(dpa)
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