Wird die Bremse bald überflüssig?

Bis auf mittelschwere und starke Bremsmanöver lassen sich viele E-Autos wie Autoscooter allein mit Gaspedal fahren. Hersteller versprechen Komfort und Effizienz - wo stecken die Risiken?

Ein Auto ohne Bremse? Undenkbar. Und doch verspricht Nissan für den neuen Leaf, der Anfang 2018 zu den Händlern kommt, der Fahrer könne in "bis zu 90 Prozent der Fahrsituationen" auf das Bremspedal verzichten. Dies ermögliche das sogenannte E-Pedal, mit dem beschleunigt, gebremst und angehalten werden kann und das der japanische Hersteller als weltweite Neuheit anpreist.

Der Leaf, seit 2010 auf dem Markt, ist mit bislang rund 280.000 abgesetzten Einheiten das meistverkaufte Elektroauto überhaupt. Wie in der Regel jedes Batterieauto, kann es Bewegungsenergie in elektrischen Strom umwandeln. "Ein Elektromotor wird mit Strom angetrieben, wenn ich aber Energie zuführe, kehrt sich der Stromfluss um, und er wird zum Generator", erläutert Reinhard Kolke, Leiter des ADAC Technikzentrums in Landsberg am Lech.

Sobald das E-Auto verzögert, also in den sogenannten Schiebebetrieb geht, generiert die E-Maschine elektrischen Strom, der in die Antriebsbatterie gespeist wird. Rekuperation ist der Begriff, der sich für diesen Vorgang mittlerweile eingebürgert hat, manche Hersteller sprechen allerdings auch von Regeneration. Fahrer von E-Mobilen verspüren den Effekt als eine gegenüber Autos mit Verbrennungsmotor gewöhnungsbedürftige Verzögerungswirkung. Die kann so stark sein, dass der Fahrzeugaufbau Nickbewegungen macht, erläutert Bernhard Voß vom südkoreanischen Hersteller Hyundai, der mit dem Ioniq sein neuestes E-Auto im Programm hat. Da dies für den Fahrer weniger störend sei, für Mitfahrende aber umso mehr, gebe es mehrere Rekuperationsstufen.

Auch andere Hersteller verfolgen mittlerweile das Konzept der mehrstufigen Nutzung der Bewegungsenergie, die sich ansonsten als Hitze an den Bremsscheiben so oft buchstäblich in Luft auflöst: Beim Opel Ampera-e, beim BMW i3 und beim Smart electric drive wie auch bei Mercedes-Modellen passt sich die Rekuperation in ihrer Intensität automatisch ans Fahrgeschehen an, das ein Radarsensor scannt.

Beim E-Golf von VW kann der Fahrer über den Getriebewählhebel zusätzlich einen "Segel"-Modus aktivieren. "Dann wird nicht rekuperiert. Nur noch der Luftwiderstand oder der Rollwiderstand der Reifen verzögern das Auto. Der E-Motor läuft im Leerlauf mit", erklärt Kolke.

Doch typisch für Elektroautos ist, dass im Grunde das Gegenteil passiert: Wer vom Antriebspedal geht, erzielt nicht nur einen Bremseffekt, der nebenbei die Effizienz und Reichweite steigert. Im Extremfall kann er das Auto auch ganz zum Stillstand bringen. Etwa beim BMW i3 können Autofahrer auf diese Weise in vielen Verkehrssituation auf das Bremspedal verzichten. Auch wenn er nicht das Bremspedal ersetzt, so soll der typische Bremseffekt auch im Hyundai Ioniq merklich von der Pedalarbeit entlasten.

Nissan geht beim Leaf sogar noch ein Stück weiter und spricht vom Ein-Pedal-System: Selbst an steilen Steigungen und Gefällen könne der Stromer damit vollständig zum Stehen gebracht werden. Das E-Pedal mache "das Fahren im Stadtverkehr leichter, fließender und damit weniger anstrengend", sagt Hiroki Isobe, Chefingenieur bei Nissan. "Es fördert dadurch ein vorausschauendes Verhalten im Straßenverkehr."

Nach Einschätzung des ADAC sind Fahrer von Elektroautos im Ringen um jeden Kilometer Reichweite ohnehin meistens vorausschauend unterwegs und streicheln das Antriebspedal oft mehr als es durchzudrücken. Er stellt statt der psychologischen die technisch bedingte zusätzliche Stromgewinnung als Vorteil in den Vordergrund: Kolke sagt, da automatisch in mehr Situationen rekuperiert werde, sei das E-Pedal "ein Baustein, den Leaf effizienter als vorher zu machen".

Doch wenn der Fahrer das Bremspedal - bis auf Notbremsungen - buchstäblich links liegen lassen kann, verändert das die Art, wie künftig Auto gefahren wird, womöglich fundamental. Eine zunehmende Entwöhnung vom Bremspedal könnte die Reaktionszeiten im Ernstfall verlängern. Auch der ADAC sieht das mögliche Risiko erodierender Routine bei starken Bremsungen, die das E-Pedal nicht alleine erzielen kann. Notbremsassistenten, in vielen E-Autos ohnehin Standard, erscheinen so gesehen unverzichtbar.

(RP)
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