Verkehrsforscher im Interview "Senioren kein größeres Verkehrsrisiko"

Braunschweig · Der Verkehrsforscher Karsten Lemmer spricht im Interview mit unserer Redaktion über eine Zukunft ohne Staus, intelligente Ampelschaltungen und Gebühren für die Straßennutzung.

 Senioren am Steuer — ein Dauerthema. (Symbolfoto)

Senioren am Steuer — ein Dauerthema. (Symbolfoto)

Foto: dpa

In Niedersachsen soll auf 280 Kilometern eine Teststrecke für autonom fahrende Autos entstehen. In Zukunft wollen hier VW, Continental und andere Neuentwicklungen testen. Maßgeblich beteiligt an der Planung ist Karsten Lemmer, Vorstand für Energie und Verkehr vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt.

Was haben denn Autos und Lkws mit Luft- und Raumfahrt zu tun?

Lemmer (lacht) Auf den ersten Blick nicht viel. Aber bei uns wird seit Langem unheimlich breit geforscht, zum Beispiel zur Aerodynamik beim ICE. Ob wir in unsere Windkanäle Flugzeuge, Züge oder Autos reinstellen, ist eigentlich egal. Abgesehen davon betreiben wir hier schon seit einiger Zeit eine Teststrecke für städtischen Verkehr, haben also bereits sehr viel Erfahrung gesammelt.

 Verkehrsforscher Karsten Lemmer.

Verkehrsforscher Karsten Lemmer.

Foto: DLR

Und was haben Sie über Teststrecken gelernt?

Lemmer Zum Beispiel, dass es manchmal ganz banale Gründe für Probleme gibt: Man hängt im Winter W-Lan-Sender an Masten und wundert sich im Sommer, wie schwach das Signal ist, wenn die Bäume wieder tragen. Oder es kommt zu Ausfällen, weil Nagetiere eine Sorte Kabel besonders schmackhaft finden. Inzwischen legen wir deswegen ,Opfer-Kabel' mit in die Rohre, die keine Funktion bei Messungen haben, aber Tiere von den wichtigen Kabeln fernhalten. Manchmal machen Kleinigkeiten viel aus.

Gilt das auch für Ihr System, mit dem man vier Sekunden weniger an Ampeln wartet? Ganz ehrlich: Das klingt nicht nach viel Zeit.

Lemmer Ja. Es sind ja nicht nur Ihre vier Sekunden, die Zahl potenziert sich mit allen Verkehrsteilnehmern. Gerade in Ballungsräumen, wo es viele Kreuzungen gibt, summiert sich das schnell auf zehn bis 15 Stunden Ersparnis pro Tag für alle Verkehrsteilnehmer. Und am Ende merkt auch der einzelne Fahrer, wenn sich der Weg zur Arbeit um einige Minuten verkürzt. Immerhin sind wir statistisch gesehen täglich eine Stunde und 20 Minuten unterwegs.

Wie genau funktioniert Ihr System?

Lemmer Wenn in Zukunft intelligente Fahrzeuge und Ampeln vernetzt sind, wissen die Systeme genau, wie viel Wartezeiten und Stau die jeweiligen Fahrer auf ihrer Strecke schon "angesammelt" haben. Sie können dann diejenigen bevorzugt durchlassen, die bereits besonders lange warten mussten. Gleichzeitig lässt sich der Verkehrsfluss verbessern, so dass mehr Autos pro Ampelphase eine Kreuzung überqueren können. Das sorgt für einen Qualitätssprung, ohne dass wir mehr Infrastruktur brauchen.

Wann werden die autonom fahrenden Fahrzeuge Wirklichkeit sein?

Lemmer Eine Automatisierung im städtischen Bereich ist hochkomplex, das werden wir in den nächsten Jahren nicht sehen. Bei Autobahn-Fahrten ist die Komplexität gering - alle fahren in eine Richtung, es gibt keine Fußgänger, Automatisierung wird es bald in Serie geben. Wir werden lange Zeit Mischverkehr haben, also automatisiert und menschlich. Ein Auto, das heute gekauft wird, fährt mindestens die nächsten zehn bis 15 Jahre im Straßenverkehr. Und dann gibt es natürlich noch die Oldtimer.

Was bedeutet das für den Verkehr?

Lemmer Wir werden erleben, dass sich die automatisierten Fahrzeuge strikt an Regeln halten, etwa bei der Geschwindigkeit. In manchen Ländern wird das weniger auffallen, in Deutschland mehr. Wenn hier Tempo 100 ist, fahren die meisten doch eher 120 km/h. Durch die konstanten Geschwindigkeiten wird es weniger Stau geben.

Wieso das?

Lemmer Wir kennen ja alle das Phänomen vom plötzlich auftretenden Stau: Ein Lkw fährt mit Tempo 80, von hinten nähert sich ein Fahrzeug mit Tempo 140, muss bremsen - und setzt damit eine Kettenreaktion in Gang. Die Zeit, die man zum Reagieren hat, wenn der Vordermann bremst, wird dabei innerhalb dieser Kette immer kleiner. Es kann also sein, dass es beim 20. Auto knallt, was völlig vermeidbar gewesen wäre - ein Grund für den Stau lag ja nie vor. Das kann man durch Kommunikation verbessern, dann könnten alle Autos synchron bremsen.

Wenn alle um acht Uhr zur Arbeit müssen, wird es doch trotzdem voll auf den Straßen.

Lemmer Naja, es gibt ja immer mehr Gleitzeitregelungen, so dass man etwa zwischen sechs und neun Uhr anfangen kann. Durch Technik können wir das besser ausnutzen. Wenn Menschen wissen, wann es günstig ist zu fahren, könnten sie sich darauf einstellen - und der Verkehr verteilt sich gleichmäßiger. Künftig werden intelligente Systeme auf unsere Kalender im Smartphone zugreifen und Fahrzeiten vorschlagen. Man kann auch Verkehrslenkungsmaßnahmen einführen, also unterschiedliche Preise festlegen: Wenn viele fahren wollen, würde die Nutzungsgebühr für die Straße teurer. Wir werden Straßen einfach intelligenter nutzen, nehmen Sie die Autobahn A2 . . .

. . . die von Oberhausen Richtung Osten führt.

Lemmer Wenn es viel geregnet hat, gibt es Streckenabschnitte, bei denen der Asphalt aufgrund des Standes der Sonne sehr stark blendet. Das erhöht die Unfallgefahr. Wenn man diese Zusammenhänge durch Datenanalysen jedoch erkennt, kann man darauf reagieren - zum Beispiel, in dem man je nach Wetterlage die Geschwindigkeit reduziert oder Warnzeichen einschaltet.

Was ist noch denkbar?

Lemmer Beispiel Kreuzungen: Linksabbieger-Unfälle sind dort relativ häufig, weil mehrere Dinge zusammenkommen: Die akzeptierte Zeitlücke beim Linksabbiegen verringert sich etwa, je länger ich stehe und je mehr andere Fahrzeuge hinter mir stehen. Am Anfang sind viele Leute vorsichtiger, wenn sie in die Kreuzung fahren. Der Abstand beim Abbiegen zu einem entgegenkommenden Auto ist größer.

Der Fahrer sagt: "Da biege ich lieber nicht ab, das ist mir zu knapp"?

Lemmer Genau, unsere Risikobereitschaft nimmt zu, je länger wir stehen und je mehr von hinten gedrängelt wird. Viele Menschen lassen sich davon beeinflussen - die Technik würde das nicht tun. Und statistisch gesehen passieren viele tödliche Unfälle im innerstädtischen Bereich, wenn die Kombination Radfahrer und Lkw aufeinander trifft. Wer dieses Duell gewinnt, ist klar - und der Verlierer zahlt häufig mit dem Leben.

Und wie lassen sich diese Unfälle durch digitale Technik verhindern?

Lemmer Das Problem ist zum Beispiel, dass der Radfahrer je nach Geschwindigkeit über einen längeren Zeitraum im toten Winkel des Lkw-Fahrers ist. Die Lösung kann sein, dass ein Radfahrer künftig per Smartphone den Lkw-Fahrer über seine Position informiert. Möglich wäre auch, dass Kinder einen Sensor im Schulranzen verbaut hätten, der Autofahrer warnt.

Kann Technik nicht auch zur Gefahr werden, wenn der Einzelne künftig viel seltener fährt?

Lemmer Ja, wenn man ganz selten manuell fährt, ist man weniger trainiert. Da gibt es Parallelen zur Luftfahrt: Auch da gibt es Systeme, mit denen man automatisch starten, landen und fliegen kann. Piloten üben daher regelmäßig im Flugsimulator, um in kritischen Situationen richtig zu reagieren.

Braucht es einen Simulator für Autofahrer?

Lemmer Das nicht. Aber man könnte dem Fahrer ja zum Beispiel eine Rückmeldung geben: Um deine Kompetenzen nicht zu verlieren, solltest du heute mal wieder selbst fahren. Ähnlich ist das ja heute bei Menschen, die einen Führerschein haben und lange nicht gefahren sind - auch die nehmen ja oft noch mal ein paar Fahrstunden, um die Sicherheit wieder zurückzugewinnen.

Sind Senioren ein größeres Risiko im Verkehr?

Lemmer Generell nicht, weil Senioren einerseits meistens relativ viel Erfahrung haben. Und andererseits wissen sie oft sehr gut, was sie sich noch zutrauen können. Das kann bedeuten, dass sie weniger Fahrbahnwechsel machen, weil die Halsmuskulatur den Schulterblick nicht mehr so sehr zulässt. Statistisch sieht man, dass jüngere Fahrer, die kurze Zeit den Führerschein haben, häufiger in Unfälle verwickelt sind.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE FLORIAN RINKE

(frin)
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