Essay Unser Glück der Sterblichkeit

Der Tod ist kein Skandal, sondern ein Geschenk: Denn auch aus dem Wissen um unsere eigene Endlichkeit erwächst moralisches Handeln.

Düsseldorf Eigentlich sind das unsere populärsten Feiertage: Allerheiligen und gleich darauf Allerseelen. Weil doch - so erschreckend banal dies klingt - wir alle sterben werden und sterben müssen, garantiert. Und wir alle sind in der Familie und im Freundeskreis schon mit dem Tod konfrontiert worden oder haben uns vielleicht selbst im stillen Stündchen dazu schon befragt. Wobei der Tod eines anderen Menschen dann manchmal zur wichtigen Zäsur im eigenen Leben wird. Viele können darum die Worte des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer teilen: "Die meisten von uns machen eines Tages die Erfahrung, dass wir Menschen erst erwachsen werden, unheilbar erwachsen, wenn Vater und Mutter tot sind. Wenn niemand mehr vor uns geht; kein Lebender jedenfalls."

Die Friedhöfe müssten also besonders heute und morgen voll der Gedenkenträger sein. Doch es bedarf keiner prophetischen Gabe, um behaupten zu können, dass dies nicht so sein wird. Weil das Wetter Anfang November ja schon uselig ist und unbeständig, dazu der extrem günstige Brückentag mit dem Versprechen eines Kurzurlaubs.

Da müssen Tod und Sterben zwangsläufig zu kurz kommen. Daraus aber gleich ein Phänomen unserer Gesellschaft abzuleiten und ihr kulturpessimistisch zu attestieren, sie sei in Sachen Lebensende sowohl sprach- als auch teilnahmslos geworden, wäre gleichermaßen wohlgefällig wie auch unseriös.

Tod und Sterben sind keine Tabuthemen mehr in einer Gesellschaft, deren Markenzeichen gerade die vermeintliche Tabulosigkeit ist. Dass dennoch vom Tod nur wenig die Rede ist, mag auch daran liegen, dass unsere Sterblichkeit zunehmend als eine Art Skandal empfunden wird. Dass wir alle sterblich sind, hat sich rumgesprochen. Doch so richtig können wir es doch nicht glauben oder uns vorstellen.

Es ist also nicht so sehr die Angst, die uns umtreibt. Zumal die eschatologischen Gewaltexzesse von Purgatorium, Hölle und Fegefeuer zumeist als theologische Relikte angesehen werden. Unsere Einstellung gegenüber dem Tod ist eher gekennzeichnet von einem fast ärgerlichen Unverständnis. Wir sind kaum noch bereit, den Tod zu akzeptieren. Ein solcher verzweifelter Widerstand ist die Antwort darauf, dass wirklich nichts unverständlicher ist als das Sterben und Sterbenmüssen. Für den letzten Akt unseres Lebens können wir keine Erfahrung sammeln.

Widerstand gegen den Tod zu leisten, ist nicht nur verzweifelt sinnlos, sondern auch lächerlich. Abgesehen von den Bemühungen sogenannter Transhumanisten, die ihr "Klassenziel Unsterblichkeit" mit Hilfe von Technik und Medizin irgendwann erreichen wollen, träumt die Mehrheit nicht vom ewigen Leben. Es gibt subtilere Haltungen, mit denen wir uns gegen Verfall und Unvollkommenheit doch insgeheim auflehnen. Dazu gehören dann bioethische Überlegungen, Therapien zuzulassen, die unsere Gene optimieren. Dazu zählt aber auch das Diagnose-Verfahren, mit denen Defekte von Embryonen im Mutterleib erkannt werden können. Jeder wünscht gesunde Kinder, keine Frage. Aber kaum jemand scheint noch bereit zu sein, Unvollkommenes anzunehmen. Genau diese Haltung bestimmt unser Bild vom Menschen, der jetzt verfügbar ist und zwangsläufig zu einem Ding wird. Menschliches Leben ist dann nicht mehr etwas Gegebenes oder gar Geschenktes, sondern etwas Gemachtes, irgendwie Hergestelltes. Der Versuch, Menschen am Lebensanfang zu optimieren, kann nicht ohne Folgen für unser Verständnis vom Lebensende sein. Mit der Maxime von einem leistungsfähigen Leben muss der Tod zur Niederlage werden.

Dabei ist unsere Sterblichkeit und menschliche Fehlbarkeit ein Geschenk ans Leben. Erst mit der Endlichkeit wird unser Handeln nicht beliebig, weil unsere Taten nicht beliebig wiederholbar sind. Aus dieser Gewissheit heraus erwächst Verantwortung - für uns und unser Leben und für die, die nach uns kommen werden. Verantwortliches, moralisches Handeln ist auch der Endlichkeit unseres Lebens verpflichtet. Für den Theologen Johannes Grössl fördert unsere Gewissheit, einmal sterben zu müssen, unter anderem Glaube, Demut und Altruismus. Unser endliches Leben gibt uns noch einen anderen Schatz an die Hand: das Empfinden für Zeit.

Es lohnt kaum, Widerstand zu leisten. Auch bringt es nichts, sich zu empören. Der Tod - so unbegreiflich er bleiben wird - ist kein Skandal. Im Mittelalter haben sich die Menschen dem Sterben mit dem Totentanz fröhlich gestellt. Und in Mexiko wird jetzt der "Tag der Toten" mit tanzenden Skeletten gefeiert. Der Tod als Erleichterung, manchmal als Erlösung.

Das alles sind Versuche, Frieden mit der eigenen Sterblichkeit zu finden. Der innere Widerstand dagegen kommt nicht in lautstarken Protesten daher - sondern in jenen langen Wagenkolonnen, die sich an den freien Totengedenktagen zum Einkauf in die Niederlande aufmachen.

(los)
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