Analyse So rheinisch kann Shakespeare sein

Neuss · Analyse Dank seines Globe-Theaters hat sich Neuss zu einer beliebten "Skakespeare-Stadt" gemausert.

Neuss, die kleine Großstadt im Schatten von Düsseldorf und Köln, in einer Liga mit London, Barcelona und Danzig: William Shakespeare macht's möglich. Von London aus zogen Shakespeares Werke einst in die Welt; Barcelona, Danzig (sowie zig andere Städte) huldigen dem elisabethanischen Dichter heute mit jährlichen Festivals. Aber nur in Neuss gibt es auch das passende Theater: ein Globe. Seit 1991 steht es an der Rennbahn, ist zum Markenzeichen der Stadt geworden.

Aber warum? Nur vier Wochen im Jahr wird es geöffnet, die Bänke sind hart, je nach Wetter heizt es sich auf wie eine Sauna oder wird zur Kühlkammer, und in diesen Tagen hat kaum ein Besucher das Areal ohne mindestens einen Mückenstich verlassen. Dafür reisten aktuell 15.200 Menschen aus einem Umkreis von mindestens 150 Kilometern an.

Der Engländer Shakespeare ist dank des Festivals in Neuss zum Rheinländer geworden. Denn in 26 Jahren ist in Neuss ein Phänomen herangewachsen, das jedes gängige Denken über Theater sprengt. Das Globe hat allerdings einen sehr großen Anteil daran, denn Shakespeare ist längst ein Weltdichter, wird im Guckkastentheater gerade jetzt zum 400. Todestag rauf und runter gespielt. Dass aber wirklich alles von ihm, gleichgültig in welcher Sprache, ob gekürzt, ergänzt oder drastisch komprimiert, ob Sonett, sattsam bekannte Tragödie oder eher unbekannte Komödie, in diesem runden Holzbau jedes Publikum begeistert, ist fast unerklärlich.

Oder zeigt eben doch: Shakespeare hat seine Stücke für das Globe geschrieben, für die große Nähe zum Publikum, das in den Vorstellungen laut lachen und schimpfen durfte, Essen und Getränke dabei hatte (und zu seiner Zeit selbiges bei Nichtgefallen auch in Richtung Bühne warf). Dass vom rechten Banknachbarn leichter Bierdunst (aber aus einem Plastikbecher!) herüberweht, während der linke geräuschvoll an einem Eis lutscht, muss man auch heute aushalten.

Es ist wohl genau dieses Ungezwungene, diese Ignorierenkönnen jedweder Theaterkonvention, die da heißt: nicht reden, schön stillsitzen, die die Besucher zu Tausenden jedes Jahr nach Neuss lockt. Dass sich in den Vorstellungen dennoch Faszination und Hingabe rasch einstellen, ist der Qualität der eingeladenen Produktionen zu verdanken. Tumult gibt es erst beim Schlussapplaus, wenn der tosende, getrampelte Beifall sogar nach einem Schiller-Stück ("Maria Stuart") oder der sehr ungewöhnlichen, englischen "Hamlet"-Adaption ("Who's there?) das Globe zum Beben bringt.

Da muss sich das Team um Festival-Chef Rainer Wiertz nicht mal Sorgen um den Nachwuchs machen. Nicht nur, weil der "Education"-Bereich für Schüler, Studenten und Lehrer ein solches Ausmaß angenommen hat, dass das Schlagwort "kulturelle Bildung" mit prallem Leben erfüllt wird. Ein Besuch im Neusser Globe wird für viele junge Zuschauer nach dem ersten Mal Kult sein. Wer das eine Jahr mit der Klasse eine Vorstellung besucht hat - vielleicht sogar gezwungenermaßen, denn Shakespeare ist Schulstoff -, kommt das nächste mit Freunden wieder. Freiwillig und auch noch gerne.

(hbm)
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