Leipzig "Shared Reading" ist die neue Wunderwaffe

Leipzig · Das passt ja ganz gut zu einer Revolutionsstadt wie Leipzig, dass dort auch die Lese-Revolution ausgerufen wird. Na ja, eigentlich soll sie aus England erst zu uns herüberschwappen, und außerdem ist es mehr eine Vorlese-, denn Leserevolution. Aber spektakulär mutet es schon an, was auf der Buchmesse verkündet wurde: das Projekt des Shared Reading, des geteilten Lesens oder der Teilhabe am Lesen.

Was sich wie ein evangelisches Sozialprojekt anhört, ist eine extrem erfolgreiche literarische Bewegung, die 1997 in Liverpool ihren Anfang genommen hat und inzwischen eine mittelständische Organisation mit fast 130 Angestellten und doppelt so vielen Freiwilligen geworden ist.

Was Shared Reading genau bedeutet, ist schon deshalb so schwer zu erklären, weil es so schrecklich wenig zu erklären gibt. Eine Gruppe trifft sich, einer liest ein paar Seiten aus einem Roman oder einem Drama vor, dann spricht man über das, was da zu hören war. Aber sehr schnell beginnen Menschen, von sich, ihrem Leben, ihren Sorgen und Erfahrungen zu erzählen. Wichtig scheint dabei vor allem das Vorlesen zu sein. Denn dabei beginnt das Teilen - mit der gemeinsamen Entdeckung eines bis dahin unbekannten Textes und neuer Wörter.

Allen, die jetzt die Augen verdrehen, sei gesagt, dass Shared Reading weder Therapie oder Medizin noch ein Buchclub oder ein ambitionierter Literaturkreis sein will. Aber zumindest das soll gelten: Literatur dient als geschützter Raum, in dem alle Teilnehmer über Geschichten miteinander vertraut werden. "Alle werden Teil des Textes, der Kunst und der Sprache und geben der Literatur mit ihren Worten Ausdruck", sagt Thomas Böhm, der als Gründer des Kölner Literaturhauses und Berliner Literaturveranstalter einen guten Namen in der Branche hat. Gemeinsam mit Carsten Sommerfeld - er war früher beim Berlin Verlag - hat er sich in England einem Selbsttest ausgesetzt. Beide kehrten derart begeistert zurück, dass sie auch hierzulande der Bewegung auf die Beine helfen wollen.

Ein bisschen sei das Projekt wie das Internet, sagt Jane Davis. Die 60-Jährige ist die Gründerin von Shared Reading und nun als Missionarin in Diensten der Literatur nach Leipzig gekommen. Und warum wie das Internet? "Weil es für jeden da ist." Jane Davis ist nicht nur Chefin der Organisation, sondern auch deren Marke und Vermarkterin. Dazu gehört ihre Lebensgeschichte, in der Bildung viele Jahre keine Rolle spielte: Sie wächst in einem Pub auf, die Eltern trennen sich früh, die Mutter, eine Alkoholikerin, überlasst Jane dem Leben. Und nun das! Alles ist möglich dank der Dichtkunst.

In diesen neu gedachten Lesekreisen finden sich junge und alte Menschen; es funktioniert in Bibliotheken und Unternehmen. Neben Bildung und Gesundheit spielen Firmen eine große Rolle. Shared Reading wird nicht nur gegen Burnout eingesetzt, sondern auch für das Betriebsklima. Nach Kicker- und Billardtischen auf den Fluren sollen Firmen jetzt Geschmack auf eine andere Wunderwaffe bekommen: das gemeinsame Vorlesen.

(los)
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