Stockholm Seit Peter Weiss gibt es eine Sprache für Auschwitz

Stockholm · Von 100 Jahren wurde der Schriftsteller geboren, der als der neue Brecht erachtet wurde.

Man sollte das unbedingt gehört haben, dieses unglaubliche Tondokument von der Tagung der Gruppe 47 in Saulgau. 1963 war das, als Peter Weiss, der schwedische Emigrant, zum Vortrag gebeten wurde, wie er mit der Trommel vorne Platz nahm und verzweifelt rhythmisch im schrägen Ton sein Lied von Charlotte Corday skandierte, die in die Stadt kommt mit nur einem Ziel: den französischen Jakobiner Jean Paul Marat (1743-1793) zu töten. Ein zweiaktiges Revolutionsdrama in der deutschen Nachkriegszeit. Und was für eins. Es wird zum Versuch eines totalen Theaters, das die menschliche Existenz grausam arrangiert zwischen Marat, dem blutrünstigen Revolutionär, und Marquis de Sade, dem brutalen Individualisten.

Mit diesem Auftritt ruht die deutsche Theater-Hoffnung auf Peter Weiss. Und als sein Stück mit dem grotesk langen Titel "Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade" 1964 zur Uraufführung kommt, ist der Erfolg riesig. Gar einen "neuen Brecht" will man in ihm sehen. Und die Prophezeiung scheint nur ein Jahr später Wahrheit zu werden: mit dem Oratorium "Die Ermittlung"; vielleicht einer der Höhepunkte des deutschen Dokumentartheaters. Peter Weiss hat in seinen elf Gesängen Material vom Frankfurter Auschwitz-Prozess verarbeitet und diese zu einzelnen Gesängen geformt - etwa den "von der Rampe", "vom Unterscharführer Stark", "vom Bunkerblock", "vom Zyklon B" und "von den Feueröfen". An fünfzehn Orten in Ost und West kommt "Die Ermittlung" gleichzeitig zur Uraufführung. Selten ist das Theater gesellschaftlich so relevant gewesen wie an diesem Tag. "Seit Peter Weiss gibt es eine Sprache von Auschwitz." So hat es Martin Walser einmal gesagt.

Mit den großen Theatererfolgen gerieten jetzt auch frühere Arbeiten in den wohlwollenden Blick der Leser; die autobiografischen Erzählungen "Der Schatten des Körpers des Kutschers" etwa wie auch "Abschied von den Eltern". Seine große Stunde schien jetzt zu schlagen, und Peter Weiss nutzt sie - nicht. Denn für den bekennenden Sozialisten wird die konkrete politische Aussage viel wichtiger als die künstlerische Leistung. "Viet Nam Diskurs" von 1968 und "Trotzki im Exil" (1970) bleiben hinter den Erwartungen zurück.

Peter Weiss - der mit seinen Eltern als sogenannter Halbjude 1935 aus Deutschland flüchtete und in Schweden eine neue Heimat bis zu seinem Tod 1982 fand - steht nicht der Sinn danach, die Interessen des Marktes zu bedienen. Ihm geht es, so altmodisch oder auch pathetisch es klingen mag, tatsächlich um die Wahrheit; die gesellschaftliche wie und eigene, individuelle. Ausschließlich dieser Suche hat er seine Sprache in den Dienst gestellt. Und ihr schließlich auch das Großwerk abgerungen, die zwischen 1975 und 1981 erschienene Trilogie "Die Ästhetik des Widerstandes". Ein Monumentalwerk über das Wesen seiner Welt zwischen Spanischem Bürgerkrieg und schwedischem Exil. Vergleichbares gibt es bis heute nicht. Ein mächtiges Wortgestöber, mit dem er die Welt als zeitlebens Heimatloser noch einmal auf die Schliche kommen wollte.

Lesetipps Neuausgabe: Peter Weiss: "Die Ästhetik des Widerstands". Suhrkamp, 1199 Seiten, 38 Euro; Neue Biografien: Birgit Lahann: "Peter Weiss, der heimatlose Weltbürger". Diez, 336 Seiten, 24,90 Euro; Werner Schmidt: "Peter Weiss". Suhrkamp, 462 Seiten, 34 Euro

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