Russisch-Orthodoxe Kirche Putins Kampf für Russlands alte Werte

Moskau · Der russische Präsident bemüht sich krampfhaft darum, dem Staat nach dem Untergang der Sowjetunion wieder einen Sinn zu geben. Bei seiner Suche nach alten Werten setzt er verstärkt auf die Russisch-Orthodoxe Kirche.

Dass Moskau das "Dritte Rom" sei, diese Vorstellung machte erstmals im 16. Jahrhundert am Zarenhof die Runde. Sie bedeutete, das Fürstentum Moskau sei der letzte kleine Rest der einst großen christlichen Zivilisation, nachdem ringsum die Ketzerei Einzug gehalten habe. Dazu zählte der Katholizismus ebenso wie der Islam. Mit der Zeit wandelte sich die Bezeichnung "Drittes Rom" zu einer Großreichsidee. Sie wirkte bis in die Sowjetzeit.

Heute sucht Präsident Wladimir Putin an diese Vorstellung anzuknüpfen. Russland als letzte Festung des christlichen Abendlandes, als Hort überlieferter Werte - damit will sich der Autokrat von der "Dekadenz" des Westens absetzen und seinem Land endlich wieder zu ethischer Einzigartigkeit verhelfen.

Dabei kommt ihm die Russisch-Orthodoxe Kirche gerade recht. Patriarch Kirill I. steht ihm zur Seite, wo er nur kann: mit einem Bekenntnis zum traditionellen Familienmodell, mit Kritik am Feminismus, mit der Überzeugung, dass ein Frauenleben sich auf Haushalt und Kinder zu beschränken habe. Vor drei Jahren erklärte er die Legalisierung der Homo-Ehe zu einem Anzeichen des bevorstehenden Weltuntergangs und rief dazu auf, alles dafür zu tun, dass im "Heiligen Russland" das Gesetz nicht die Sünde unterstütze.

Bei der Präsidentschaftswahl des Jahres 2012 hatte er den Bewerber Putin als "Wunder Gottes" bezeichnet und das Volk aufgerufen, für ihn zu stimmen.

Inzwischen hat die enge Zusammenarbeit zwischen Putin und der Kirche einen ethischen Kodex hervorgebracht, den beide dem Volk überstülpen wollen. Er richtet sich gegen den freizügigen westlichen Lebensstil und sucht sogar den Schulterschluss mit den "muslimischen Brüdern". Joachim Willems, Professor für Religionspädagogik an der Universität Oldenburg, merkte dazu kürzlich in einem Beitrag für die "Frankfurter Allgemeine" an: "Um die genannten Funktionen zu erfüllen, ist es im Übrigen gar nicht nötig, an Gott zu glauben oder eine Religion tatsächlich zu praktizieren. Das wenig verbindliche Bekenntnis zur ,eigenen' Kultur reicht völlig aus."

Auf diese Weise können sich Russlands Bürger geborgen fühlen in einer Geschichte, die scheinbar nahtlos von den Zaren über die Sowjetunion mit ihrem Massenmörder Stalin, der aber immerhin viel für den Aufbau der Zivilisation getan habe, bis in die Gegenwart reicht. Und über allem hängt des Kreuz der Christen.

Das ist eine schlichte Weltsicht. Nur vordergründig kommt sie dem Wunsch vieler Russen entgegen, wieder stolz auf die eigene Nation zu empfinden. Dahinter allerdings steht immer noch etwas, das das Volk wirklich eint, bis heute: der mit zahllosen blutigen Opfern erkaufte Sieg über Hitler-Deutschland.

Was ist typisch russisch, was ist der Kern der Nation, den es zu bewahren gilt? Diese Fragen haben Russlands Intellektuelle schon im 19. Jahrhundert umgetrieben. Legendär ist die Auseinandersetzung zwischen Westlern und Slawophilen. Die Westler - darunter Alexander Herzen und Iwan Turgenjew - sahen die Zukunft Russlands in einer Europäisierung in Philosophie, Technik und Staatsform. Die Slawophilen - von Gogol über Dostojewski bis zu Solschenizyn im 20. Jahrhundert - bekannten sich dagegen zur russischen Dorfgemeinschaft als Ideal des Zusammenlebens.

Doch die Slawophilen waren nicht so rückwärtsgewandt, wie konservative Kreise in Russland sie heute gern darstellen. Sie setzten sich für die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Aufklärung des Volkes ein. Und Dostojewski wusste sehr wohl die Verlockungen des Westens zu schätzen. In Wiesbaden und Bad Homburg verspielte er beim Roulette sein Vermögen. Am Ende musste er sich wohl oder übel ausgerechnet von seinem Widersacher Turgenjew, diesem unverbesserlichen Westler, Geld leihen.

Wie sehr sich das konservative Slawophilentum dennoch bis in unsere Tage gehalten hat, das bezeugen Äußerungen des 2008 gestorbenen russischen Literaturnobelpreisträgers Alexander Solschenizyn. Nachdem er 1974 als Dissident aus der UdSSR ausgewiesen, ins amerikanische Exil gegangen und von dort 1994 nach Russland zurückgekehrt war, lobte er nicht etwa die Freiheit im Westen. Er kritisierte die Nato, die Teile des zerfallenden Russlands in ihre Sphäre zu ziehen suche, verurteilte die Lebensweise des Westens als unmoralisch und suchte genau solch ein Russland wiederherzustellen, wie Putin und Kirill es sich heute wünschen: ein Russland der Sitte, des Anstands und vermeintlicher Rechtschaffenheit, das es zu keiner Zeit gegeben hat. Auch heute ist Russland, von Autokratie und Korruption gebeutelt, davon so weit entfernt ist wie eh und je.

(B.M.)
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