Populismus aus osteuropäischer Sicht

Der bulgarische Autor Krastev erklärt die Furcht vor Überfremdung.

Gegenwärtige Gefährdungen der EU sind unbestreitbar. Es überwiegt eine westeuropäische Sicht, geschichtsideologisch überhöht wie bei Heinrich August Winkler, der eine "Urdifferenz" zwischen Westen und Osten sieht, oder vorurteilsbehaftet gegenüber Osteuropa. Umso aufklärender ist der Essay von Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, wissenschaftlich tätig sowohl dort als auch in Österreich und den USA. Er geht von der Frage aus, ob die EU zerfallen könnte - wie das Habsburgerreich 1918.

Krastev hält Europa für gespalten in links und rechts, Nord und Süd, große und kleine Staaten, solche, die mehr Europa, und solche, die weniger oder gar kein Europa wollen. Dazu kommt die Spaltung zwischen "jenen, die Zerfall aus eigner Anschauung, und jenen, die ihn nur aus Lehrbüchern kennen. Das ist der Graben zwischen denen, die den Zusammenbruch des Kommunismus am eigenen Leibe erfahren haben, und jenen, die von solchen traumatischen Ereignissen verschont blieben".

Die Gefährdungen der EU gründen in der Migration. Sie ist die "neue Revolution", aber "keine Revolution der Massen wie im 20. Jahrhundert, sondern eine vom Exodus getriebene Revolution, getragen von Einzelnen, inspiriert nicht von ideologisch gefärbten Bildern einer strahlenden Zukunft, sondern von auf Google Maps verbreiteten Fotos vom Leben auf der anderen Seite der Grenze". Diese Revolution führt zu den zwei Fragen Krastevs, wie die Flüchtlingskrise die europäischen Gesellschaften verändert hat und warum die Bürger die demokratischen Eliten verachten. Antworten sieht er in der elementaren Fehldiagnose vom Ende der Geschichte, in der Krise der Linken, die den Widerspruch zwischen dem universalen Anspruch der Menschenrechte und ihrer Ausübung im nationalen Kontext nicht aufzulösen vermögen.

Populismus ist in Mitteleuropa - so ordnet Krastev die postkommunistischen EU-Mitgliedstaaten ein - virulent. Die Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen hat drei Wurzeln. Geschichtlich ist es die Begründung der Staatlichkeit in ethnisch homogenen Nationen zum Ende des 19. Jahrhunderts. Demografisch wird diese nationale Identität durch die Emigration ihrer aktiveren Landsleute gefährdet. Dazu kommen Paradoxien der postkommunistischen Übergangsphase, etwa die Enttäuschung über den Wohlstandsrückstand gegenüber Westeuropa.

Den mitteleuropäischen Paradoxien stehen ein westeuropäisches und ein Brüsseler Paradoxon gegenüber. Das westeuropäische besteht in einem Politikverständnis, das zu kurzfristigen Bewegungen führt, die in Bedeutungslosigkeit enden, das Brüsseler im Anspruch auf die Anerkennung seiner meritokratischen Verdienste, was aber populistische Reaktionen herbeiführt. Von EU-Verlierern werden meritokratische Eliten und von ihnen akzeptierte Migranten als "Zwillinge" gesehen.

Krastev hält den Erhalt der EU für möglich und wünscht ihn - "die Krisen haben mehr als die Brüsseler Kohäsionsbemühungen zu dem Gefühl beigetragen, dass wir Europäer Teil derselben politischen Gemeinschaft sind". Geschichte kommt nicht zum Ende, sondern besteht in wechselnden Ereignissen. "Statt den Versuch zu machen, das Überleben der EU durch eine Stärkung ihrer Legitimation zu sichern, kann die Demonstration ihrer Überlebensfähigkeit zu einer wichtigen Legitimationsquelle werden."

(RP)
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