Düsseldorf Plädoyer für gute Arbeitsbedingungen

Düsseldorf · Heike Geißler berichtet in dem Buch "Saisonarbeit" über ihre Zeit als Aushilfe bei Amazon. Sie ruft zu mehr Respekt auf.

Dieses Buch hat Kraft, es packt den Leser, denn es ist engagiert geschrieben, so engagiert wie lange keines mehr. Es gibt sich als Reportage, aber im Grunde ist es etwas anderes, ein Plädoyer nämlich, und zwar dafür, dass wir nicht alles hinnehmen sollen und dass es kein Argument sein kann, nichts zu verändern, nur weil alles doch schon immer so gewesen ist wie jetzt. Dieses Buch will die Welt verbessern, und dafür braucht es nicht viel. Man muss bloß diesen Rat beherzigen, sagt das Buch: Seid nett zueinander.

Das Buch heißt "Saisonarbeit" und geschrieben hat es Heike Geißler. Die Autorin ist 37 Jahre alt, Mutter zweier Kinder, sie lebt in Leipzig. Sie veröffentlichte einen Roman und einen Erzählband, manchmal arbeitet sie journalistisch, aber in der Buchführung ist sie etwas nachlässig, und deshalb tat sich 2010 ein Finanzloch bei ihr auf. Also bewarb sie sich als Weihnachtsaushilfe bei Amazon - der Internet-Versandhändler hat in Leipzig ein gewaltiges Lager. Am ersten Arbeitsmorgen saß sie froh in der Straßenbahn, froh darüber, Geld verdienen zu können, aber abends war sie nicht mehr froh, und bald begann sie zu notieren, warum auf Heiterkeit erst Melancholie folgte und schließlich Zorn.

Heike Geißler ist kein weiblicher Günter Wallraff. Sie will kein Unternehmen vorführen oder Anschuldigungen aussprechen. Aber sie möchte beschreiben, wie es zugeht in der Arbeitswelt, dass es dort oft zu kleinen Demütigungen kommt, die bewirken, dass Menschen sich schlecht fühlen. Warum etwa werden Erwachsene von Vorgesetzten einfach geduzt? Warum werden sie wie Kinder angesprochen: "Aufstehen! Seid leise! Anziehen! Esst!"? Warum muss jemand im Winter vor einer kaputten Tür arbeiten, wo es so stark zieht, dass man sich schlimm erkältet, obwohl die Tür mit wenigen Handgriffen repariert werden könnte? Und warum heißt es "stell dich nicht so an!", sobald man das alles mal anspricht?

Einige werden stöhnen: Ach Gottchen, da hat sich ein Akademiker-Fräulein in die Realität verirrt. Wenn man Geißler anruft und diesen Vorwurf vor ihr ausbreitet, sagt sie: Ja, sie könne das verstehen. Aber es kratze nicht an der Wahrhaftigkeit ihrer Frage: Warum ändert man nicht, was leicht zu ändern wäre?

Geißler scannte Ware und packte sie in Kisten. Das ist nichts Schlimmes, gar nicht, aber die Atmosphäre, in der das erledigt werden musste, war schlimm. Unnötig unfreundlich. Menschenfeindlich. "Warum schikanieren und entmündigen die Menschen einander?", fragt sie.

Sie erzählt, wie sie eine Charge mit Modellautos versenden sollte. Die Kästen, in denen die Modellautos geliefert wurden, waren wie ein Autohaus gestaltet, aber sie waren kaputt. Geißler rief einen Kollegen, doch der sagte: Die Autos selbst sind ja in Ordnung, also versende das. Wer Kinder hat, weiß, dass ihnen solche Verpackungen ebenso wichtig sind wie die Autos darin, aber der Kollege sagte dennoch: Versende das. Also versandte sie es.

Oder die Sache mit dem Wochenende. Sie musste freinehmen, sie sprach deswegen vor, aber es hieß nur: Nein. Sie fragte: Warum? Aber die Antwort war: Nein. Ob man keinen Grund nennen könne, etwas, das sie verstehen würde, aber: Nein. Oder die wacklige Palette. Ein Kollege stapelte hinter Geißler Ware so hoch, dass sie herunterzustürzen drohte. Warum er das mache, fragte sie. Er sagte, weil das so vorgeschrieben sei. Als sie fragte, ob er nicht ein paar Meter weiter eine zweite Palette befüllen könne, sagte er: Für weite Wege werde ich nicht bezahlt.

Das ist nicht so bedrohlich wie die Bedingungen in Chicagos Schlachthäusern, die Upton Sinclair in "Der Dschungel" schilderte. Aber es führte dazu, dass sich Geißler morgens fühlte, als würde sie "aus einem Sommertag in einen Scheesturm" treten. Verwundet. Sie spricht von entfremdeter Arbeit, und um das im Text darzustellen, berichtet sie nicht nur in der ersten Person, sondern spricht den Leser auch direkt an, weist ihm eine Identität zu: "Sie fahren jetzt zu Amazon", schreibt sie. Aus "Ich" wird "Sie".

Natürlich kann ein Arbeitnehmer das von Geißler Geschilderte aushalten, aber: Warum sollte er es tun? Viele wollen von ihr wissen, ob man durch Boykotte oder ein besonneneres Kaufverhalten etwas ändern könne. "Klar kann man abwägen, ob man wirklich immer das günstigste Produkt kaufen muss", antwortet Geißler dann. Aber darum geht es nicht, nicht nur jedenfalls, sie hat kein Buch gegen Hyperkapitalismus oder Digitalisierung geschrieben.

Sie möchte vielmehr das Individuum in die Pflicht nehmen. Es gebe Bücher über die Verbesserung des Lebenswerts von Nutztieren. Das sei gut, aber gut wäre, wenn man auch das Leben von Millionen Arbeitnehmern durch kleinste Eingriffe verbesserte. Sie wünscht sich, dass Kollegen auf Bedürfnisse von Kollegen eingehen. Dass Vorgesetzte Untergebenen erklären, wie sie entscheiden. Dass man als denkender Mensch ernstgenommen werde. Es geht um Respekt und Würde.

Deshalb hat Heike Geißler "Saisonarbeit" geschrieben. Ein starkes, wahres und wichtiges Buch. Hoffentlich lesen es viele.

(RP)
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