Roman Osama macht sich aus dem Staub

Der Oberterrorist entkommt dem amerikanischen Einsatzkommando und überlebt erst einmal. Zumindest in "Geronimo", dem neuen Roman des niederländischen Bestsellerautors Leon de Winter.

Seit Jahren - genauer: seit 2011 - rätseln berufene oder auch weniger berufene Experten und Journalisten über die näheren Umstände des Todes von Osama bin Laden. Dass der Al-Qaida-Pate nach fünfjährigem Versteckspiel im pakistanischen Abbottabad durch ein Kommandounternehmen der Amerikaner erschossen und seine Leiche unmittelbar danach im Meer versenkt wurde, wird von vielen Ungläubigen diesseits und jenseits der Verständnisgrenzen bezweifelt.

Ihnen kann der um keinerlei Spekulationsterror oder sonstwie geartete Einfälle verlegene Leon de Winter mit seinem jüngsten Werk auf die Sprünge helfen. Nein, ganz so, wie es die Amerikaner uns glauben machen wollen, ist danach das Unternehmen "Geronimo" nicht abgelaufen. Weil sich in Wahrheit der Oberterrorist rechtzeitig aus dem Staub machen konnte.

Und aus lauter Skrupel spielen die Leute vom Seals-Team auch noch mit. Die Öffentlichkeit wird in die Irre geführt. Und zwar nach allen Regeln der Erfindungsgabe, über die Leon de Winter ausreichend verfügt. Was erfahren wir da nicht alles:

Dass Osama bin Laden in seinem Versteck drei Frauen unterhält - mit der Unterstützung von Viagra -, dass die jüngste ihn "besser als seine älteste Frau" kennt; dass "UBL"(so lautet sein Kürzel) die Favoritin seiner abendlichen Damenbesuche mit Eis versorgt, das er in einer Kühlbox mit sich führt. Wir erfahren also eine Menge aus seinem Privatleben.

Nach den hochpolitischen Romanen "Leo Kaplan" und "Ein gutes Herz" ist de Winters neuer Roman ein Hohelied auf eine Erzählkunst, die einzigartig für dieses Genre steht - eine Thrillermischung, die keinerlei Rücksicht auf irgendwas oder irgendwen nimmt. Wenn Osama zu nächtlicher Stunde wie ein Penner verkleidet auf seinem altersschwachen Moped durch die Gegend fährt und sich beim nächsten Kiosk seine Zigaretten (natürlich der Marke Marlboro) besorgt, gerät die Wahrnehmung von Realität in den Bereich des Phantastischen.

So trifft er bei einer seiner nächtlichen Fahrten auf eine kleine Bettlerin, ein etwa 14-,15-jähriges Mädchen, dem - wie wir später erfahren - die Taliban als Strafe für das Hören westlicher Musik (Bach) die Hände und die Ohrmuscheln abgeschnitten haben. Osama hat von diesem Mädchen nichts zu befürchten. Es wird ihn nicht erkennen. Er nimmt sie auf seinem Moped mit in sein Haus - aus Mitleid. Osama bin Laden als mildtätiger Muslim. Wieder eine neue Erkenntnis. Aber so geht es immer weiter in diesem Roman, der eben nicht nur von einem sensationellen Kommandounternehmen handelt, sondern auch von der beglückenden Wirkung Bachscher Musik und der Leidenschaft, die sie freisetzt.

Was die Amerikaner nicht wissen: Osama verfügt in seinem Versteck über einen mit der Garage verbundenen Tunnel, einen effektiven Fluchtweg. Der Leser ahnt schon, dass das Unternehmen "Geronimo"(benannt nach dem legendären Häuptling der Apachen) nicht so verlaufen wird, wie es sich die Planer der CIA vorgestellt haben.

Die Leute des Seal-Teams, das Osama zur Strecke bringen soll, haben einen aus Goa stammenden Doppelgänger in petto, einen Inder namens Ben Laden, der dem Qaida-Chef täuschend ähnlich sieht. Leon de Winter entwickelt damit ein Verwirrspiel, das den Spannungsbogen auch durch den häufigen Perspektivwechsel bis zum Finale auf hohem Niveau hält.

Die Aktion in Osamas Haus wird von einem Jungen aus der Nachbarschaft - Jabbar - beobachtet, dessen Taufname John war und der seiner Mutter Maria. Jabbar (oder John) kann die Osamas Haus attackierenden Soldaten als Amerikaner identifizieren. Er kennt sich mit deren Ausrüstung und somit auch ihren Hubschraubern aus - alles dank Internet. Und er bewundert die Amerikaner, ihre Fähigkeit, "mit ihren Black Hawks vom Himmel herabzusteigen und böse Männer zu bestrafen".

Leon de Winter hat einen Ich-Erzähler - den Afghanistan-Veteran und einstigen Geheimagenten Tom Johnson - in seine Story eingebaut, der mit Hilfe von Jabbar den Ablauf des Kommandounternehmens rekonstruiert. Johnson ist es auch, der dem verstümmelten Mädchen Bach vorgespielt hat - und zwar die Goldberg-Variationen. "Weil sie Bach hörte, verlor sie ihre Hände, aber er rettete auch ihr Leben." Johnson wiederum fragt sich, ob er für das Schicksal des Mädchens verantwortlich ist.

Am Schluss ermahnt ihn seine Freundin: "Sei vorsichtig. Pass gut auf dich auf." Zu diesem Zeitpunkt hat Tom schon eine Menge Abenteuer hinter sich. Israel und Bangkok und London, kreuz und quer geht es in diesem Handlungswirrwar.

Es gibt keine Sieger und Besiegten. Am Ende triumphiert in diesem ebenso politischen wie fantastischen Werk die Musik. Die Raffinesse, mit der Leon de Winter seine Fiktionen in Literatur umsetzt, ist bewundernswert, auch wenn sein Roman einen kleinen "Schönheitsfehler" aufweist.

Am Ende ist Osama bin Laden doch gestorben - das ist dann eben die Wirklichkeit. Und jetzt könnte sich der Schriftsteller sogar auf eine Fortsetzung einlassen. Denn hatte der weltbekannte Terror-Pate nicht auch noch einen Sohn, der Rache für die Tötung seines Vaters angedroht hat? An Stoff dürfte es da nicht mangeln.

(RP)
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