Sommerserie "Große Freiheit" Oh, wie schön ist Kanada

Keinesfalls trampen, lautete das Gebot der Eltern vor der großen Reise. Daran gehalten hat sich unsere Redakteurin damals als 17-jährige Schülerin allerdings nicht.

Eigentlich war ein Polizist Schuld, dass ich mich nicht an die Regeln hielt, die mir meine Eltern mit auf diese erste große Reise gegeben hatten. Kanada sollte es sein, der Osten mit den Provinzen Nova Scotia, Prince Edward Island und Neufundland. Anja und ich waren in der elften Klasse Austauschülerinnen in Ontario gewesen und wollten mehr vom Riesenland sehen - und damit nicht bis 18 warten. Sechs Wochen, die ganzen Ferien, wollten wir mit dem Bus durchs Land reisen, ein Zelt und einen Trangia-Sturmkocher im Rucksack. Das mit dem Bus hat nicht geklappt. Und daran war dieser kanadische Polizist Schuld.

Sechs Tage nach meinem 17. Geburtstag ging es los - mit einer schriftlichen Einverständniserklärung der Eltern für die Einreisekontrolle, weil wir noch nicht volljährig waren, dem Versprechen, sich einmal (!) in der Woche zu melden, und ganz viel Angst vor der eigenen Courage. Das Muffensausen verstärkte sich, als wir in Halifax landeten und mitten in der Pampa standen. Mit einem Bus ging es in die Stadt zur Jugendherberge, die für uns Vorstadtkinder gefühlt in der Bronx lag. Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Bus weiter in einen Ort, in dem es laut einer Tourismusbroschüre einen Campingplatz geben sollte. Der Busfahrer fuhr eine Raststätte an und ließ uns aussteigen - wir standen mitten im Nirgendwo, der Ort, in den wir wollten, lag meilenweit entfernt.

Zwei Polizisten, die gerade Kaffee tranken, wurden auf uns aufmerksam und fragten, wohin wir denn wollten. Zum Campingplatz, sagten wir. So was gibt es hier nicht, antworteten sie. Leichte Verzweiflung machte sich breit. Der nächste Bus führe erst am nächsten Tag, sagten die Polizisten und blickten wohl auf die personifizierte Verzweiflung. "Ich nehme euch mit zu meiner Familie", bot der eine an. Und so schlugen wir in seinem Garten unser Zelt auf. "Und morgen bringe ich euch dann zum Highway, dann könnt ihr trampen", sagte er. Eines hatten wir daheim unseren Eltern versprechen müssen: nicht zu trampen. Aber der Polizist sagte, Kanada sei nicht Europa und Trampen ungefährlich. Nur bei Truckern sollten wir nicht einsteigen. Noch so ein Versprechen, das nicht lange halten sollte.

Also trampten wir. Am Anfang mit keinem guten Gefühl und mit dem festen Vorsatz, uns zumindest an die "Keine Lkw"-Regel zu halten. Wenn man allerdings zwei Stunden an einer Stelle steht und es kommt nicht ein einziges Auto vorbei, muss auch diese Regel gebrochen werden. Bedrohliche Situationen hat es nicht gegeben, dafür wurden wir mit so viel Interesse und Fürsorglichkeit bedacht, dass vielleicht gerade das Trampen diese Reise zu etwas Besonderem gemacht hat. Viele Menschen sind riesige Umwege für uns gefahren. Immer wieder hörten wir den Satz: "Ich nehme nie jemanden mit - aber wenn ich euch nicht mitnehme, wer tut es vielleicht dann?" Ein junger Typ hat uns auf Neufundland zu einem Campingplatz gefahren und am nächsten Morgen wieder abgeholt - und uns mit der Nachricht begrüßt, dass Deutschland am Tag zuvor Fußball-Weltmeister geworden war. Deutschland war ohnehin immer das Gesprächsthema: Die Mauer war rund ein halbes Jahr zuvor gefallen, alle interessierten sich für die politische Situation.

Viele unserer Freunde damals waren geplättet, dass unsere Eltern uns solch eine Reise überhaupt erlaubt hatten. Ein paar Wochen mussten wir sie allerdings schon bearbeiten. Kanada sei aber doch nicht gefährlich und solch ein großer Teich schnell überwunden, falls etwas passieren sollte. Wir waren beide Pfadfinder und gewöhnt, in einer Gruppe zu reisen und Dinge zur Not selbst organisieren zu können. Oder wie im Fall der kanadischen Polizisten zumindest so verzweifelt zu gucken, dass sich jemand verantwortlich fühlte. Bei den wöchentlichen "Wir leben noch"-Anrufen ist meine Mutter natürlich schnell dahinter gekommen, dass wir nicht mit dem Bus an all die Orte gekommen sind, von denen wir berichteten. "Ihr trampt doch, gebt es zu." "Ja, stimmt, aber es geht nicht anders." "Okay, dann passt auf euch auf. Aber das sagen wir besser nicht deinem Vater."

Schlussendlich drohten wir unseren Eltern, dass wir auch nach Cala Ratjada nach Mallorca fahren könnten, da können Mädchen viel schlimmere Dinge passieren, als dass sie ein Bär anfällt. Natürlich haben wir in Kanada nicht einen einzigen Bären gesehen. Lebend zumindest. Und als es morgens an der Mülltonne neben dem Zelt rappelte und wir knipsbereit mit der Kamera im Anschlag den Reißverschluss hochrissen, war der vermutete Waschbär nur der freundliche Nachbar.

So viele nette Menschen habe ich bei keiner anderen Reise getroffen. Nach einer 13 Stunden langen Busfahrt durch Neufundland - dort gibt es so wenige Bewohner, dass Trampen nicht als Fortbewegungsmittel gelten kann - hatten wir uns mit einer jungen Mutter angefreundet, die uns zum Glück mit zu sich nach Hause nahm, als wir spätabends und im strömenden Regen in St. John's ankamen. Wir rollten den Schlafsack auf dem Spieleteppich im Kinderzimmer aus.

Bei der Wahl der Nachtquartiere waren wir nicht wählerisch. Vor der Fahrt nach Neufundland bauten wir das Zelt auf dem Kinderspielplatz des Fährterminals auf - zwischen Sandkasten und Rutsche. Morgens wurden wir von der quietschenden Schaukel geweckt. Vor der Rückfahrt - die Fähre sollte gegen 5.30 Uhr ablegen - zelteten wir auf der Wiese neben dem Terminal. Abends brieten wir Würstchen in der Wartehalle, weil draußen ein so kalter Wind pfiff. Den Leuten war es egal - auch als der Feueralarm losging. Morgens um 5 Uhr kamen die Trucker vorbei, um sicher zu gehen, dass wir nicht verschlafen. Heute denke ich, wir waren für viele so etwas wie ein Maskottchen, Besucher aus einer weit entfernten Welt, die verrückten deutschen Mädchen.

Eine grandiose Natur erleben, wandern, Wale beobachten, Papageientaucher zählen, die Geschichte der Einwanderung verstehen - all das hat diese erste große Reise ausgemacht. Aber vielleicht war unter den vielen Eindrücken die wichtigste Erfahrung, sich getraut und es geschafft zu haben. Zwei Jahre später - nach dem Abitur - ging es wieder nach Kanada. Diesmal für acht Wochen an die Westküste, mit Rucksack und Trampen. Und das durfte dann auch mein Vater wissen.

(mso)
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