Nikolaus Harnoncourt Der Kolumbus der Klassik ist tot

Düsseldorf/Wien · Der weltberühmte Dirigent Nikolaus Harnoncourt ist im Alter von 86 Jahren gestorben. Der historischen Aufführungspraxis bereitete er lustvoll den Weg. Auch als Theoretiker war er einzigartig.

 Dirigent Nikolaus Harnoncourt wurde 86 Jahre alt.

Dirigent Nikolaus Harnoncourt wurde 86 Jahre alt.

Foto: dpa, hk

So unverwechselbar wie sein Leben und Wirken war auch sein Abschied. Am 5. Dezember schrieb er dem Publikum im Wiener Musikverein einen Brief, den er dem Programmheft in Fotokopie beilegen ließ. Die Schrift war etwas krakelig, aber gut zu lesen; hier schrieb ein alter Mann, der jung dachte und dem Form und Stil über alles gingen. Der Inhalt war betrüblich, denn der Dirigent verkündete seinen Rückzug vom Pult: "Meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne." Er hoffe, dass von der "ungewöhnlich tiefen Beziehung" zwischen Podium und Publikum, von der "glücklichen Entdeckergemeinschaft", die man aufgebaut habe, vieles bleiben werde.

Autor der Briefs war der große Dirigent Johannes Nicolaus Graf de la Fontaine und d'Harnoncourt-Unverzagt, der Welt besser bekannt als Nikolaus Harnoncourt. Er ahnte, dass es zu Ende ging und selbst die übermenschlichen Kräfte, die Dirigenten gemeinhin besitzen, nicht mehr ausreichten. Es forderte wohl auch eine schwere Krankheit ihren Tribut. Jetzt ist Harnoncourt im Alter von 86 Jahren gestorben, und es ist, als sei ein allseits geliebter Christoph Kolumbus von uns gegangen, mit dem einen in der Tat eine "Entdeckergemeinschaft" verbunden habe, Irrtümer eingeschlossen.

Er hat der Musikwelt andauernd Tore aufgestoßen und nichts als gottgegeben hingenommen; für zahllose Aspekte des Musizierens war er TÜV und Daniel Düsentrieb in einem. Über all seinem Tun stand die Frage: Wie müssen wir die Musik wirklich verstehen? Wie hat sie der Komponist damals gehört? Was war seine Botschaft? Und was müssen wir tun, damit wir die Musik mit den Ohren des Komponisten hören können?

Aus diesen Fragestellungen entstand so etwas wie ein Lebenswerk: die Idee der historischen Aufführungspraxis. Es ging Harnoncourt nicht darum, lauter alte und unhandliche Instrumente auf die Bühne zu karren, die quietschten, brummten, kieksten. Nein, er wollte durch die Materie dem Geist von damals und seinem lebendigen Charme auf die Spur kommen. Musik wollte er enttarnen und von der Patina der Zeit befreien. Harnoncourt wusste, was Dirigenten einem Werk antun können: wie sie es durch falsche Tempi verzerren, wie sie es vollpumpen mit Ideologie, zukleistern mit dem Mörtel des Sounds. Er wollte der Retter sein — und das ging natürlich auch nicht ohne Einseitigkeiten, er wusste es zeitlebens. Und lächelte dazu.

Für ein solches herkulisches Werk — nämlich die Augiasställe der Klassik zu reinigen — brauchte man einen Schädel, an dem man sich wundstieß und in den keiner hineingucken konnte. Genetisch und biografisch trafen sich die Dinge glänzend: Harnoncourt, am Nikolaustag 1929 geboren, stammte aus zugleich lothringischer und habsburgischer Familie, wurde in Berlin geboren und wuchs in Graz auf; preußisches Mundwerk mischte sich mit steirischer Sturheit. In seiner Familie wurden alle zu adlig-akademischer Gründlichkeit erzogen. Seine Brüder studierten Medizin, Jura und Theologie; ihm kam die Musik zu, doch nicht bloß als ihr Praktiker, sondern als ihr Lektor und Denkerfürst.

Tausend Fragen

Schon während seines Cellostudiums vertiefte er sich unter Anleitung von Josef Mertin in seltsam ferne alte Musik, in historische Traktate und entlegene Unterweisungen. Aus dieser Lektüre brandeten tausend Fragen an sein kritisches Bewusstsein: Wie sollte man beispielsweise ein Vibrato spielen, also die bebende Schwingung einer Note? Auf jedem Ton und immer gleich schnell wimmernd oder langsam wummernd? Mussten die Linien der Geigen wirklich manchmal so penetrant nach Nussnougat-Creme klingen? Und warum hatten Melodien oft keinen Anfang, kein Ende, keine innere Entwicklung? Warum tönten sie so künstlich und nicht nach menschlicher Rede?

Ja, das Hinterfragen war Harnoncourts zentrale Geisteshaltung, als er 1952 als junger Cellist Mitglied der Wiener Symphoniker wurde und gleich mit der Inkarnation des Guten und des Bösen konfrontiert wurde: mit Herbert von Karajan, dem Chefdirigenten. Von ihm lernte Harnoncourt unendlich viel — und natürlich auch, wie er selbst es nicht machen wollte. Musik unter Karajan schien ihm oft zu lackiert, zu synthetisch, zu glatt, da fehlten die Kanten. Karajan war somit der ideale Impulsgeber für Harnoncourt, der schon ein Jahr später ein eigenes Orchesterchen gründete, das später den Namen Concentus Musicus Wien annahm.

Der Concentus war im damaligen Wien eine Art Überfallkommando, eine alternative Müllabfuhr, die in den Konzerten allen traditionellen Kehricht aus dem Saal beförderte. Zum Markenzeichen wurden rasch die zart singenden, noch etwas hohlwangigen Geigen, die lauschigen Oboen, die knalligen Naturtrompeten, die mit harten Schlegeln verdroschenen Pauken. Bläser spielten ohne Ventile und Streicher auf Darmsaiten — das klang so anders, so naturbelassen, aber auch so faszinierend, dass der Concentus wie eine Erweckungspartei daherkam.

Möglicherweise war Harnoncourt der folgenreichste Dirigent des 20. Jahrhunderts. Zwar gab es auch in London oder Paris Versuche, mit allen Mitteln in die Echtzeit der Komponisten einzudringen; doch Harnoncourt besaß die größte messianische Posaune. Und er plante Projekte, die den gesamten Erdkreis staunen ließen. So rollte er die Musikgeschichte von ihren Wurzeln auf und beschäftigte sich beispielsweise mit dem großen Claudio Monteverdi. Dessen "Orfeo" brachte er bereits 1954 in Wien heraus; damals musste aber noch Paul Hindemith dirigieren, weil Harnoncourt sich die Leitung vom Cellopult aus nicht zutraute. Aufs Podium kletterte er erstmals in den siebziger Jahren, an der Mailänder Scala und dann beim Concertgebouw Orchestra in Amsterdam.

Seit dieser Zeit ist Nikolaus Harnoncourt ein unablässiger Befruchter unseres Musiklebens geblieben. Beethoven gab er die bedrohliche Dimension zurück, Bach verehrte er als fünften Evangelisten, bei dem Lustbarkeiten erlaubt waren und natürlich auch Knaben singen durften. Später ging er zu Schumann, dessen Oper "Genoveva" er in Zürich mal grandios als geheimes Hauptwerk identifizierte; sogar Giuseppe Verdi stand auf seinem Plan. Und immer wieder fand er natürlich zu Mozart zurück, seinem Hausgott. Als er vor zwei Jahren dessen drei letzte Sinfonien mit seinem Concentus Musicus herausbrachte, hatte man die leise Vermutung, Harnoncourt dirigiere bereits sein Vermächtnis. Er brachte ja auch eine kuriose Idee mit: dass diese drei letzten Sinfonien nämlich in Wirklichkeit ein sinfonisches Oratorium seien, dessen Teile wie bei einem Flügelaltar zusammenhingen.

Aber das war mitnichten eine intelligente Kopfgeburt, denn sie überzeugte auch klanglich, so vital wie nie. Sogar für totgespielte Stellen fand er überwältigend einfallsreiche Lösungen. Dieser Mozart war leuchtend schroff, rebellisch, trotzdem kammermusikalisch reich geädert, manchmal stark von Pauken und Bläsern dominiert, jedenfalls nie streicherglanzselig. Das Finale der Es-Dur-Sinfonie gelang als monothematischer Ideenblitz. Natürlich war der ewige Widersprecher Harnoncourt auch hier bestrebt, dem Vorhaben sein Brandzeichen zu hinterlassen — und so gibt es viele glühende Momente wie auch zahlreiche kleine Verzögerungen, die in der Partitur nicht zu finden sind. Aber Harnoncourt formulierte sie mit solch suggestiver Kraft, dass man sie nur zu gern akzeptierte.

Bei keinem anderen Dirigenten hatte man als Zuhörer derart großes Vergnügen daran, mit ihm nicht einer Meinung zu sein. Ohne ihn wird es ohne Zweifel etwas langweiliger werden. Zum Glück ist seine Saat überreich aufgegangen. Unseren tiefsten Dank, lieber Nikolaus!

Info: Die letzte Aufnahme des großen Dirigenten

Programm Ludwig van Beethoven, Sinfonien Nr. 4 und 5

Interpreten Concentus Musicus Wien, Nikolaus Harnoncourt (Aufnahme vom Mai 2015)

Label Sony

(RP)
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