Kurt Masur Der Maestro der deutschen Einheit

Leipzig · Im Alter von 88 Jahren ist Kurt Masur gestorben. Fast drei Jahrzehnte wirkte er als Kapellmeister des Leipziger Gewandhauses. 1989 leistete der vormalige DDR-Staatskünstler einen wichtigen Beitrag zur deutschen Vereinigung.

Unter den großen Dirigenten der Gegenwart war er der Hüne, ein Mann mit gewaltigem Überblick und wucherndem Bart, und wegen seiner Höhe und imposanten Erscheinung verzichtete er darauf, auch noch den Albatros zu geben. Seine langen Arme brachten es gewiss zu erheblicher Spannweite und bedurften keines Taktstocks. Doch lieber hatte er seine Arme nah am Körper, als sei er die Mitte, die sie nicht zu verlassen brauchten, weil aus dieser Mitte die Konzentration kam, die große Musik benötigte.

So behalten wir Kurt Masur in Erinnerung: als Christophorus, der seine geliebte Klassik jeden Tag aufs Neue aus den Strudeln dieser Welt barg. Das war kein langweiliger Job wie Bademeister im leeren Schwimmbad, Masur war ein Retter aus Hingabe, der für die Klassik kämpfte, als drohe ihr der Atem auszugehen. Er hatte dieses Amt ja auch nicht geerbt, sondern sich aus Liebe erstritten. Das unterschied ihn von vielen. Er war der Sohn eines Elektrikers aus Niederschlesien, der im väterlichen Geschäft früh wusste, wo die Kabel, Glühbirnen und Sicherungen herumlagen; an manchen Tagen half er aus, später erlernte er das Handwerk selbst. Für sein späteres Leben gefiel es ihm allerdings deutlich besser, die Sehnen und Leitungen großer Musik zu erkunden und ihr als berufener Techniker das Licht leuchten zu lassen.

Ursprünglich wollte er Pianist werden, aber es war tatsächlich die Sehne eines Fingers, die bei ihm zu kurz war. Heutzutage könnte man das operieren, damals schien das Risiko zu groß. Mit bewundernswerter Zähigkeit spannte Masur einmal seine Arme aus, seufzte kurz - und wurde Dirigent. Der Weg an die wichtigen Pulte war steinig und führte durch die Gräben (ost-)deutscher Opernhäuser, Masur ging den traditionellen Weg des Kapellmeisters mit jener ehrlichen Energie, die kleine Leute entwickeln, die sich zu großen Dingen berufen fühlen.

Hat Masur damals in Halle, Erfurt oder Schwerin ahnen können, dass er mal für fast drei Jahrzehnte das Leipziger Gewandhausorchester befehligen würde, das Renommierorchester der ehemaligen DDR? Vielleicht hat er es gehofft, doch dürfte es für den wahrhaftigen Musikus Masur eine noch größere Erhebung gewesen sein, dass man ihn auch in der weiten Welt niemals für einen sozialistischen G'schaftlhuber hielt, der mit Hammer und Sichel dirigierte. Er galt als Künstler, der als schlesischer Sachse das Mutterland der Klassiker verkörperte.

So ereilte Masur 1990 der Ruf der Neuen Welt - die Einladung der New Yorker Philharmoniker, ihr Chef zu werden. Für diesen Sprung an die Spitze eines der Big Five gab es jenseits der künstlerischen Dignität eine weltliche Empfehlung: Masur hatte bei der friedlichen deutschen Revolution eine wichtige Rolle gespielt, er hatte damals, bei den Leipziger Montagsdemonstrationen im Oktober 1989, zur Besonnenheit aufgerufen und damit die unblutige Wende garantiert. Mochten manche ihn auch für einen Opportunisten halten, der erst seine Stimme erhob, als das nicht mehr mit Risiken behaftet war: Vorbildfunktion war in New York ein gewichtiges Pfund. Es sollte sich später auch in London (beim Philharmonic Orchestra) und in Paris (beim Orchestre National de France) auszahlen, wo Masur ebenfalls als Chefdirigent gefragt war.

Als Interpret war Masur gewiss kein Erneuerer, kein Revolutionär, sondern ein Bewahrer. Hört man ihn etwa Beethovens Fünfte musizieren, erlebt man einen Dirigenten, der Kunst mit heiligem Ernst gegen die Anfechtungen des Unbefugten, Schnöden, Beiläufigen verteidigte. Es war eine Verteidigung mit Vorsatz: Masur dirigierte seinen Beethoven so, als wolle die Musik das Gesicht des Komponisten in Stein meißeln. Tönende Aquarelle schätzte Masur bei diesem Säulenheiligen der Klassik nicht so sehr, er bevorzugte die Skulptur. Über Beethovens Stirn liefen Furchen, wenn Masur ihn aufführte, der Blick war unwirsch, Lachfalten um die Augen sah man nicht. Aber erstaunlich war es zu erleben, dass er auch Werke wie César Francks d-Moll-Symphonie vorzüglich hinbekam - flüssig, fantasievoll und doch lateinisch geerdet.

Seit Jahren litt Masur unter der Parkinson-Krankheit, es kamen Wehwehchen hinzu und dummerweise auch Stürze. Dann meldete sich eine schwere Nierenerkrankung. Am Ende dirigierte Masur, nun gar kein Hüne mehr, sondern beinahe ein Zwerg, im Rollstuhl - und warf trotzdem immer noch lange Schatten.

Jetzt ist Kurt Masur, der Maestro der deutschen Einheit und Klassik, im Alter von 88 Jahren in Connecticut (USA) gestorben.

(w.g.)
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