„The Tallest Man on Earth“ Kanye West ist jetzt Singer-Songwriter

"The Tallest Man on Earth" drängt live selbstbesoffen und völlig ohne Not seine eigene Musik in den Hintergrund. Erklärungsversuch für ein Verhalten, das hoffentlich nicht Schule macht.

 Sich selbst stilisieren gehört zum Geschäft, aber tun kann man es auf viele Arten. Kristian Mattson alias "The Tallest Man on Earth" hat sich für dieses Motiv entschieden.

Sich selbst stilisieren gehört zum Geschäft, aber tun kann man es auf viele Arten. Kristian Mattson alias "The Tallest Man on Earth" hat sich für dieses Motiv entschieden.

Foto: Cameron Wittig

Ich war der erbittertste denkbare Verfechter der These, dass in der Musik ausschließlich die Musik zählt. War. Bis Montagabend, als der Singer-Songwriter Kristian Matsson (32) alias "The Tallest Man on Earth" auf traurigste Art das Gegenteil unter Beweis stellte — wie ein sympathischer Nachbar, von dem man eines Tages erfährt, dass er anstelle eines normalen Autos einen Hummer fährt, was nicht verboten ist und doch tief blicken lässt.

So stark die Musik war, so misslungen war das Konzert. Zu diesem Urteil komme ich nicht aus Kritiker-Eitelkeit, also etwa, weil ich privat dort war und damit meine eigenen Tickets bezahlen musste (das war meine eigene Entscheidung), weil an der Bar keine Heiße Zitrone zu bekommen war (kann man nicht verlangen) oder weil mir im Publikum unangenehme Menschen begegnet wären (da waren bloß Fremde).

Die Musik war, wie gesagt, stark. Unzählige Männer mit Gitarre sind schon zum nächsten Bob Dylan geweiht worden. Matssons sensationelles Gitarrenspiel allerdings, virtuos und unbarmherzig treibend zugleich, legitimiert ihn, kombiniert mit seinen quäkig-kratzig vorgetragenen epischen Texten tatsächlich als Erbe. Ob es nicht kontraproduktiv ist, sich als Singer-Songwriter von einer kompletten Band unterstützen zu lassen, ob die Magie und Intimität des frugalen "Mann + Gitarre" dabei nicht verlorengehen, darüber lässt sich trefflich streiten. Vollumfänglicher Größenwahn allerdings sollte bei beim Indie- und Folk-Volk, bei den selbsternannten Guten und Empfindsamen, auf Abneigung stoßen, und nichts anderes war im Kölner E-Werk zu besichtigen.

Das Gockeln des ehemaligen kleinen Mannes, der es besser wissen müsste

Der Rubikon des Verständnisses für künstlerischen Ausdruck war überschritten. Dass sich der Sänger der Reihe nach neun verschiedene Gitarren reichen ließ, wirkte schlimm divenhaft, mag aber auf diesem technischen Level seine Berechtigung haben. Seine fast slapstickhafte Tanzperformance sei Matsson verziehen, doch auch darüberhinaus gerierte er sich wie Leonardo DiCaprio in einer seiner Arschloch-Rollen mit Haifisch-Grinsen — oder wie Kanye West.

Was blieb, war die Frage nach dem Warum: Es gibt keinen Dresscode für Singer-Songwriter, keinen Zwang zu, sagen wir, alter Jeans und Holzfällerhemd, und das ist auch gut so, aber warum musste es zum blütenweißen, engen T-Shirt auch noch eine blütenweiße, enge Hose sein? Warum das pseudo-achtlose, dramatisch inszenierte Wegschleudern des Plektrons nach jedem Song? Dieser Musiker wollte vor allem zeigen, was er kann. Die Mission musikalische Machtdemonstration gelang, aber um welchen Preis?

Kaum hatte man anerkennend bemerkt, dass er das Intro zu "Thousand Ways" scheinbar mühelos einhändig spielte, drehte Matsson die vielleicht prätentiöseste Pirouette der Weltgeschichte, mit einer Hand auf dem Rücken, auf dass seine Teufelskerligkeit auch der Barfrau 200 Meter vor der Bühne ja nicht entgehe. Keine Selbstironie, nirgends. Nur das Gockeln des ehemals kleinen Mannes, der es eigentlich besser wissen müsste, was es umso enttäuschender macht, weil es wirkt wie Verrat an den Zurückgebliebenen.

Wie ein Pick-Up-Artist

Das alles war singulär schlimm genug, würde aber zum Desaster, wenn es Schule machen machen sollte bei all den anderen Musikern mit traurigen Texten unter dem unbarmherzigen Druck, sich zu verändern und weiterzuentwickeln. Zu irgendetwas anderem.

Ein Beispiel: "King of Spain" klang 2010 wie die Befreiung eines Losers durch die unwahrscheinliche Eroberung einer schönen Frau — mit der fast travestiehaften Theatralik vorgetragen wirkte derselbe Song wie die Selbstbeweihräucherung einer dieser Aufreiß-Könige mit Psychotricks im Ärmel, die sich Pick-Up-Artist schimpfen. Unter diesem Gesichtspunkt wirken auch seine Allmachtsfantasien aus "Love Is All" befremdlich statt wunderlich spinnert: "Well I walk upon the river like it's easier than land / Evil's in my pocket and your will is in my hand / Oh, your will is in my hand. / And I'll throw it in the current that I stand upon so still / Love is all, from what I've heard, but my heart's learned to kill".

In einem Satz: Wenn nicht der Mensch, so doch der Künstler Kristian Matsson wirkte an diesem Abend gruselig selbstbesoffen.

Zuvor hatte ich ihn für selbstironisch gehalten, wie es Konsens ist wegen seines Künstlernamens, der auf seine geringe Körpergröße anspielt. Jetzt plötzlich fällt mir auf, dass 1,70 Meter gar nicht so wenig sind. Vielleicht ist Matsson auch schlicht ein Übersetzungsfehler unterlaufen und er wollte sich eigentlich "The Greatest Man on Earth" nennen. Zwinker, zwinker.

(tojo)
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