Nachruf auf Musikkritiker Joachim Kaiser Der Kaiser ist tot

Düsseldorf · Joachim Kaiser, der berühmteste deutsche Musikkritiker, ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Seine analytischen Betrachtungen über Pianisten, über Ludwig van Beethoven und andere wurden zur Kultliteratur des Musikbetriebs.

 Joachim Kaiser im Jahr 2008 (Archiv).

Joachim Kaiser im Jahr 2008 (Archiv).

Foto: dpa

Wenn er einen Konzertsaal betrat, stellte sich Andacht ein, und die Leute hatten gleich doppelt Grund, sich zu freuen. Erstens natürlich auf den Klavierabend von Alfred Brendel oder Maurizio Pollini, zweitens auf die bald zu lesende Rezension aus der Feder dieses Mannes, der unumstritten der bedeutendste, wirkmächtigste Musikkritiker deutscher Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg war. Wo Joachim Kaiser erschien, wurde nicht kritisiert, sondern analysiert; er nahm Konzerte auseinander, indem er sich von entbehrlichen Dingen wie Spielfehlern verabschiedete und zu ergründen versuchte, was sich der Pianist bei seiner Interpretation gedacht hatte. Und dann beschrieb Kaiser auf tiefsinnige Weise, was er von dieser Interpretation hielt. Für manchen war es eine Auszeichnung, wenn er von Kaiser verrissen wurde, denn er war eines Textes für würdig befunden worden.

Man hatte in den Jahrzehnten, da Kaiser das Feuilleton Deutschlands neben Marcel Reich-Ranicki gleichsam fachpäpstlich dominierte, maximales Vergnügen, diese Texte zu lesen. Weil da einer jenseits der Branchenphrasen in die tieferen Regionen des Hörens und Nachdenkens vordrang - und weil es ihm gelang, die flüchtige Zeitkunst Musik, die sich dem sprachlichen Lasso so vehement zu verweigern scheint, mit Worten einzufangen. Wenn man Kaiser las, hatte man das Gefühl, man sitze in diesem Moment mit ihm im Konzertsaal, aus dem er nun, zwei Tage später, reportierte.

Joachim Kaiser stammte aus Ostpreußen, 1928 wurde er als Sohn eines Landarztes in Milken geboren. Mit acht Jahren saß er am Klavier und zeigte jenen Eifer, der ihn durchs Leben trug. Später studierte er Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Göttingen, Tübingen und Frankfurt am Main. Seine journalistische Laufbahn begann er 1951. Kaiser arbeitete unter anderem für den Hessischen Rundfunk und die "Frankfurter Hefte". 1953 stieß er zur Schriftsteller-Vereinigung "Gruppe 47"; aus dieser Zeit stammten seine persönlichen Verbindungen zu vielen großen Geistern deutscher Sprache. Als er im Jahr 2009 sein Privatarchiv dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar übergab, staunte man dort über seine Korrespondenzpartner: Theodor W. Adorno, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Ernst Bloch, Heinrich Böll. Kaiser hörte übrigens nie auf zu lesen und war darum auch ein feiner Gewährsmann, wenn es um Johnson, Grass oder Walser ging.

1959 wurde Kaiser Feuilleton-Redakteur der "Süddeutschen Zeitung". Für seine Arbeit als Musik-, Theater- und Literaturkritiker bekam er verschiedene Preise. Den Posten des Feuilleton-Chefs gab er 1977 auf, um in Teilzeit als Professor an der Hochschule für Musik in Stuttgart zu lehren.

Der Journalist Kaiser war Mitglied der Schriftstellervereinigung PEN, und tatsächlich waren seine Musikkritiken in ihren besten Momenten nichts anderes als Literatur. Seine Spanne zwischen Hymnus und Vernichtung war breit; und da Kaisers ästhetische Position einem klassizistischen Tempel glich, dessen Vorhof von bissigen Hunden bewacht wurde, gab es eine erkennbare Reserve gegenüber Rebellen und Bilderstürmern; dass er etwa über den kanadischen Pianisten Glenn Gould nur begrenzt glücklich war (weil der in Kaisers Ohren Mozart verhunzte), schrieb er oft und gern.

Einige Bücher Kaisers haben Eingang ins deutsche Musikbildungsgut gefunden, vor allem "Große Pianisten in unserer Zeit" und seine Betrachtung über "32 Beethoven-Sonaten und ihre Interpreten"; diese Schwarte galt unter Musikfreunden bald als "Zauberberg" der Musikkritik: rätselhaft, kryptisch, aber als Frucht des Hörens und Denkens unerschöpflich. Kaiser besaß etwas, worum sich zahllose Rezensenten lebenslang bemühen: einen eigenen hohen Ton. Er hätte aber auch über die Trachtenkapelle Unterhaching schreiben können: Bei Kaiser hatte Musik, egal in welcher Lokalität, immer eine Kunstdimension.

Vor Eitelkeit war Kaiser nicht gefeit, wie auch sonst: Der Kritiker muss ja gegen den erklärten Willen des gesamten (jubelnden) Publikums an seiner eigenen Meinung festhalten, sonst macht er sich vor sich selbst unglaubwürdig und hat unruhige Nächte. Und so wusste er, dass nur gute Texte eine in sich reißfeste Argumentation ergaben. Kaiser liebte seine Texte und konnte sich an der Gewissheit freuen, dass auch seine nicht minder anspruchsvolle Leserschaft sie lieben würde.

Jetzt ist Joachim Kaiser, unser großer Kollege, im Alter von 88 Jahren gestorben. Wir verneigen uns vor ihm, indem wir einen Satz des großen Pianisten Arthur Rubinstein über sein Pianistenbuch zitieren: "Noch niemals habe ich erlebt, dass musikalische Interpretation mit derartiger Genauigkeit und Liebe zum Detail analysiert und beschrieben wurde."

(w.g.)
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