Goertz 100 Platz 3: Claude Debussy, "La mer"

Düsseldorf · Die drei "symphonischen Skizzen" des genialen französischen Komponisten imitieren das Meer nicht, sie erfinden es neu. Die 1905 erschienene Partitur zählt zu den wegweisenden Meisterwerken des 20. Jahrhunderts.

Goertz 100: Platz 3: Claude Debussy, "La mer"
Foto: EMI

In den Nebeln, Wolken und Schleiern, in denen seine Musik verborgen scheint, versteckt sich auch eines der größten Genies der Musikgeschichte. Er hat der Welt eine musikalische Ausdrucksform geschenkt, deren Namen er gleichzeitig ablehnte, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, da er als Erfinder dieser Kunst in der Musik gerühmt wurde: Impressionismus. Der große Claude Debussy wollte alles sein, nur kein Impressionist, kein Meister des Ungefähren, Vagen, obschon seine Musik mit dem malerischen Impressionismus geistesverwandt ist. Wer je See-Bilder von William Turner oder Claude Monet sah und danach Debussys tiefsinnigen symphonischen Skizzen "La mer" (uraufgeführt im Jahr 1905) lauschte, musste an eine große, belastbare und inspirierende Verbindung glauben, die über Jahrzehnte und über die Grenzen der Disziplinen hinweg trug.

Debussy (1862 bis 1918) empfand sich niemals als Maler, der seine Musik in der Unschärfe der Kontur verhüllte. Seine Kunst ist vielmehr trocken wie Schwarzbrot, herb konstruiert, sie entwickelt sich nicht wie eine klassische Sinfonie und hat mit der Dialektik der Sonatenform kaum etwas zu schaffen. Sie scheint im Augenblick zu entstehen und dann wieder zu verschwinden, doch in diesem Moment ist sie unüberbietbar, dabei von exotisch anmutender Härte. Als er mit seinem Verleger Durand über das Titelblatt zu "La mer" nachdachte, fiel Debussy wieder sein geliebtes Japan ein, mit dessen Klängen und Künsten er sich seit der Pariser Weltausstellung 1899 intensiv beschäftigt hatte. Auf dem Cover prangt nun der weltberühmte, wild und kantig anmutende Holzschnitt von Katsushika Hokusai: "Die große Welle vor Kanagawa".

Wie mag Debussy "La mer" komponiert haben, diesen 23-minütigen Porträtfilm über das Meer, seine Farben, Charaktere und Gezeiten? Der Komponist stand mitnichten, um Bilder zu sammeln, mit seinem linierten Skizzenblock wie mit einer Staffelei am Ufer und malte das Meer in die Partitur. Debussy entwarf vielmehr eine Musik aus der Vorstellung, und dieses klingende Abbild seiner Phantasie gelang so grandios, dass sich sogar das Meer selbst ein Beispiel an Debussys Musik nehmen könnte. Sie zeigt das Meer in seiner Totalen, sanft und flüsternd, böse und tumulthaft; bereits die Überschriften der drei Sätze zeigen uns, wie und wohin die Akkorde fluten, paddeln, strömen, kentern, überschwappen: "Morgengrauen bis Mittag auf dem Meer" (sehr langsam), "Spiel der Wellen" (Allegro), "Dialog zwischen Wind und Meer" (lebhaft und stürmisch).

Wenngleich einige Kompositionen Debussys uns glauben machen, er sei ein Fan südlicher Gefilde gewesen, so schlug sein Herz in Wahrheit für den Norden und die Nordsee: für die normannische Kühle, die bretonische Wucht. Ahnen kann man von diesen Gestaden in "La mer" nichts, allerdings: Wer je eine bretonische Springflut mit Gischt und Urgewalt erlebt hat, der darf sich in Debussys Werk lebhaft daran erinnert fühlen.

Und wie spricht der Meister zu uns? In kleinen Tonschritten, mit statischer Harmonik und erlesener Chromatik. Der Taktstrich als Mautstation der Zeit und des Geschehens verliert an Bedeutung - die Musik breitet sich in der Horizontalen aus, bis sie am Ende jedes Satzes wie von einer Pointe aus dem Nichts beendet wird. Und wer auf die Suche nach einem singbaren Thema, einer Melodie geht, wird enttäuscht. Diese Musik ist flüchtig wie der Augenblick. Anders als Igor Strawinskys ähnlich folgenreicher "Sacre" meißelt sich diese Musik nicht ins Ohr. Sie verweht.

"La mer" ist Claude Debussys kostbarste Ode an die Natur - und gewaltig in der Wirkung gerade dadurch, dass der Komponist nirgendwo im Stück durch "Handwerk" in Erscheinung tritt. Der Macher tritt zurück hinter sein Werk und lässt es sprechen, als steige der Wasserspiegel im Moment des Hörens und ebbe dann wieder ab, gelenkt einzig vom Wind und den Gestirnen.

Tatsächlich, "La mer" erfindet das Meer nicht bloß - diese Musik ist das Meer.

Hinweis: Zum Anhören der Playlist benötigen Sie einen Spotify-Konto. Einige Werke sind in der von Wolfram Goertz ausgewählten Einspielung nicht auf Spotify verfügbar. Diese tauchen deshalb nicht in der Playlist auf.

Die Plätze 2 und 1 werden wir in den kommenden Tagen verraten und in Einzeltexten würdigen. Wie sähen Ihre "Top 100" aus? Lassen Sie uns diskutieren!

(w.g.)
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