Gastbeitrag von Volker Reinhardt Die Konfessionen in Konkurrenz ums Seelenheil

Luthers neue Lehre führt zur Bildung einer neuen Kirche. In der Auseinandersetzung mit Rom entstehen nicht nur wirkungsvolle Feindbilder - die Kontroverse verändert auch die katholische Kirche für immer. Ein Gastbeitrag von Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit.

 Martin Luther

Martin Luther

Foto: Wikipedia

Für Friedrich Nietzsche war der Fall klar: Luther hatte alles falsch gemacht. Die Kirche war eigentlich auf dem besten Wege gewesen um 1500: Das Christentum dämmerte seinem Ende entgegen, in Rom feierte das pralle Leben mit Cesare Borgia, dem herrlich amoralischen Sohn Papst Alexanders VI., an der Spitze der Kirche seinen Triumph über das, was Nietzsche die Sklavenmoral Jesu von Nazareth nannte. Die katholische Kirche folgte jenem "Willen zur Macht", der Inbegriff des Lebens war. Und dann kam Luther mit dem Sündenbewusstsein des schlechten Mönchs und stellte das eigentlich bereits überwundene Wahngebilde des Glaubens an Auferstehung und Erlösung wieder her.

Luther, ein deutsches Verhängnis, ein Welt-Verhängnis aus Deutschland. Bei aller Verdammung schlummert in diesem Verdikt eine typisch deutsche Selbstüberschätzung: Wie sollte ein kleiner Theologieprofessor aus dem abgelegenen Landstädtchen Wittenberg eine solche Geschichtswende bewirken?

Pointierte Geschichtskonstruktionen fragen nicht nach historischer Logik. Trotzdem lebt das hier zugrunde gelegte Deutungsmodell bis heute fort. So sind in der gigantischen Kakophonie des Hyper-Erinnerungsjahres 2017 durchgehend Stimmen zu hören, die Luther auch zum Erneuerer der katholischen Kirche erklären und, mehr oder weniger ironisch, den Papst auffordern, den 1521 verurteilten Ketzer heiligzusprechen.

Luther selbst war übrigens derselben Meinung, was nicht überrascht, betrachtete er sich doch als den von Gott aufgerufenen Hauptakteur der Zeit und die Geschehnisse der Gegenwart daher unmittelbar auf sich bezogen: "Die Lutheraner sind hervorragende und wohltätige Ketzer, verteidigen wir doch bislang das Papsttum. Denn wenn wir es nicht verhindert hätten, hätten es die Papisten längst verschlungen." Das soll heißen: Mein Kampf gegen Rom hat den dort residierenden Antichrist gezwungen, sein teuflisches Wüten hinter der Fassade von Erneuerungs-Fake zu verbergen, und ihm dadurch eine letzte Überlebensfrist eingeräumt.

Sogar scheinbar nüchterne wissenschaftliche Terminologie weist im Kern dasselbe Verhältnis von Ursache und Wirkung auf: Wer den Begriff "Gegenreformation" für die Wandlungsprozesse der "alten" Kirche im 16. Jahrhundert benutzt, geht ja auch stillschweigend davon aus, dass das alles letztlich von Wittenberg seinen Ausgang nahm, das Papsttum also nur reagierte und aus reiner Opposition gegen die Erneuerungsbewegung nördlich der Alpen wenig mehr als ein steriles Gegenbild dazu zustande brachte.

In Wirklichkeit weisen die Ereignisketten der Reformation und der Katholischen Reform (so der "Ersatz" für "Gegenreformation") gemeinsame Ursprünge und Ansätze auf. Sie liegen in den Reformbestrebungen des 14. und 15. Jahrhunderts beschlossen, die summarisch auf eine stärkere Verinnerlichung des Glaubenserlebens bei gleichzeitigem Abrücken vom äußeren Heilsapparat der Kirche mit seinem reichen Angebot der "guten Werke" abzielen. Das schließt, lange vor Luther, Kritik an den marktschreierischen Praktiken der Ablass-Kampagnen, an der fetischhaften Verehrung von Bildern, dem Übermaß der Wallfahrten und des Reliquienkults mit ein und gipfelt in der Forderung, sich auf die Anfänge und Wurzeln des Christentums, das heißt: auf die Erlösungstat des Gottessohnes zu besinnen.

 Der Historiker Volker Reinhardt lehrt an der Universität Fribourg in der Schweiz.

Der Historiker Volker Reinhardt lehrt an der Universität Fribourg in der Schweiz.

Foto: Volker Reinhardt

Der Versuch einer Erneuerung geht fast immer einher mit dem Ausdruck tiefen Unbehagens an der "Verweltlichung" der Kirche, an der Machtpolitik und dem extremen, auf die Gründung eigener Familienstaaten ausgerichteten Nepotismus der Päpste, an der Prachtentfaltung der Kardinäle, am schlechten Bildungsstand vieler Kleriker und am profitorientierten Gebührenwesen der Kirche Luther braucht sich in seinen ersten großen Texten in diesem Motiv-Arsenal nur zu bedienen.

Zum Bestseller werden sie, weil Luther nicht nur Missstände konstatiert, sondern auch den Unwillen, diese zu beheben. 1512 bis 1515 ist auf einem Konzil im Lateran viel Reform verkündet, aber so gut wie nichts davon umgesetzt worden sehr zur Enttäuschung der Reformkreise innerhalb der Kirche. Ihnen fehlt es bislang an Prominenz und Einfluss, um ihre Vorstellungen in die Praxis umzusetzen.

So ist um 1520 ein Scheidepunkt erreicht. Luther ist bislang durch die Bissigkeit seiner Kritik aufgefallen, fällt aber aus dem Reform-Spektrum der Zeit noch nicht heraus. Jetzt stellt er auch die Lehre infrage nach der Fragwürdigkeit des Ablasses und der Machtüberdehnung des Papsttums, das zu Unrecht Verfügungsgewalt im Jenseits beansprucht, bestreitet er jetzt zentrale Dogmen und Lehrentscheidungen aus den letzten 900 Jahren und ersetzt sie durch neue Doktrinen:

Sakramente vermitteln kein Heil mehr, sondern sind bloße Zeichen für die Stärkung im Glauben, der allein die Rechtfertigung des sündigen Menschen vor Gott bewirkt; dieser Glaube ist das Geschenk der Gnade, die Gott nach unerforschlichem Ratschluss den einen gewährt und den anderen verweigert, ohne dass diese Einfluss auf diese Entscheidung haben; und das alleinige Maß der Rechtgläubigkeit ist die Bibel, und zwar in der Auslegung Martin Luthers, seines Zeichens Gottes Dolmetscher. Die Tradition der Kirchenväter und Heiligen ist zweitrangig und verzichtbar, da als Menschenwerk stets irrtumsgefährdet.

Diese radikalen Positionen haben die Bildung einer neuen Kirche ohne geistlichen Stand unter der Oberhoheit der weltlichen Obrigkeit zur Folge. Sie leiten sich aus dem Reformideen-Pool der jüngeren Vergangenheit ab und steigern diese zugleich zu einem Extrem, das für die Mehrheit der italienischen, spanischen und französischen Theologen unannehmbar ist. Diese Eskalation kommt in stetiger Auseinandersetzung Luthers mit seinen römischen Gegnern zustande. Sie ist die Frucht einer kontroversen, auf beiden Seiten schnell schrille Töne annehmenden Debatte, die durch nationalistische Vorurteile geprägt ist und früh die Form wechselseitiger Abstoßung annimmt.

Gerade dadurch liefert sie beiden Parteien die benötigte Identität durch wirkungsvolle Feindbilder: Luther, der trunksüchtige Barbar, die größenwahnsinnige Marionette machtgieriger Fürsten auf der römischen, Rom, die Hure Babylon, auf der wittenbergischen Seite. Die Reformation ist von Anfang an ein Gegenentwurf zu den Positionen des Papsttums, ohne dass man auf die Idee gekommen wäre, sie mit einem entsprechenden Ausdruck wie "Gegenromisierung" zu belegen.

Parallel dazu schreitet die Ausbildung von Erneuerungskonzepten innerhalb der katholischen Kirche voran. Dabei ergibt sich auf beiden Seiten ein gärendes und alles andere als einheitliches Meinungsbild. Nördlich der Alpen schlägt es sich in der sozialrevolutionären Bewegung Thomas Müntzers, in Täufergemeinden, die das unmittelbare Ende der Zeit gekommen glauben, und in der republikanischen Reformation Huldrych Zwinglis in Zürich nieder; südlich davon bildet sich ein nicht minder kontrastreiches Spektrum aus, das von dogmatischer Duldsamkeit bis zum Konzept eines alle abweichenden Tendenzen mit dem Scheiterhaufen verfolgenden Inquisitions-Katholizismus reicht.

Mit dem Gütesiegel "katholisch" werden auf dem Konzil von Trient (15451563) Positionen versehen, die sich in der Auseinandersetzung mit den reformierten Gegenmeinungen herausbilden, im Kern aber in der theologischen und humanistischen Tradition der Kurie begründet sind: dass der Mensch im Gegensatz zu den Prädestinationslehren Luthers, Zwinglis und Calvins einen Rest von freiem Willen besitzt, der ihn dazu befähigt, die von Gott angebotene Gnade abzulehnen oder anzunehmen und dadurch eigene Verdienste zu erwerben; dass die guten Werke, in der richtigen Gesinnung verrichtet, heilswirksam sind und dass die Auslegung der Bibel eine Sache kollektiver, generationenübergreifender Weisheit ist und, um die Einheit der Kirche zu gewährleisten, vom Papst entschieden werden muss. Alle diese Dogmen stehen in schroffem Gegensatz zu den Lehren der Reformatoren und sind doch mehr als deren bloße Bestreitung, nämlich Frucht kontroversen Denkens und Glaubens, das bis heute nicht zu Ende ist.

In einem Punkt aber waren sich alle Kirchen und Konfessionen ausnahmsweise einig: Sie verdammten ihre Konkurrenten als Ausgeburten der Hölle und versuchten diese teuflischen Ursprünge an der grenzenlosen Verdorbenheit, speziell den zügellosen sexuellen Ausschweifungen des gegnerischen Personals, festzumachen. Zumindest dieser Ton hat sich heute zivilisiert.

Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg in der Schweiz. Er gilt als Experte für die italienische Renaissance und hat mehrere Bücher zum Zeitalter der Reformation veröffentlicht. Zuletzt erschien "Luther, der Ketzer" und "Pontifex. Eine Geschichte der Päpste" (beide C.H. Beck).

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