Düsseldorf Lügen für die Wahrheit

Düsseldorf · Der italienische Autor Umberto Eco ("Der Name der Rose") starb 84-jährig.

Um es lieber gleich zu sagen: Umberto Eco war auch ein Lügner. Ein gewiefter sogar, also einer aus Überzeugung. Etwas schlimmer: Er erhob das Lügen zum Prinzip und lehrte uns (noch viel schlimmer), dass ohne die Lüge die Wahrheitssuche vielleicht nicht erfolgreich sein würde. "Wer gut lügt, kann auch gut dichten."

Starker Tobak für einen Semiotiker, der die Zeichen von Welt und Sprache entziffern will und in dessen Romanen es immer auch um wunderbare Wahrheitssucher geht. Er selbst ist ein Grenzgänger zwischen Wahrheit und Lüge geblieben: als verschmitzt lächelnder Schelm und - in der seriösen Variante - als "Vernebelungs-Philosoph".

Dass man davon wieder verzaubert wird, hat seinen traurigen Grund in der Nachricht vom Krebstod des großen, stets so gütig wirkenden italienischen Dichters und Denkers. Sie hat seine Leser schon am Samstagvormittag ereilt: vielleicht beim Einkauf oder beim Frühstück - jedenfalls mitten im Leben. Die Kunde dürfte kaum jemand so hingenommen haben, ohne dass er mit seinen Gedanken zu einem der großen Romane abschweifte. In ihnen brachte Eco das Lügen zur Meisterschaft, obgleich er dies wohl mit feineren Worten gesagt hätte: "Wenn wir die Wahl zwischen einer schlechten Wirklichkeit und einer guten Geschichte haben, nehmen viele immer noch lieber die Geschichte."

Und dann staunt man doch, dass es am Ende bloß sieben geworden sind, die im kruden Missverhältnis zum opulenten wissenschaftlichen Werk und jenen 39 Doktortiteln stehen, mit denen Eco in seinen 84 Lebensjahren für all sein Forschen auch noch bedacht wurde.

Nicht alle Romane sind gleich gut geraten. Es gibt ein paar beschwerlichere Brocken darunter, die man früher beendet hätte, wäre nicht er der Autor gewesen. Die Lesefreuden an "Der Friedhof in Prag" hielten sich ebenso in Grenzen wie bei "Die Insel des vorigen Tages". Dabei sind alle Bücher in ihrer Konstruktion reizend, die Recherche des Stoffes ist spannend und der historische Kontext erhellend - wie beim Wissenschaftskrimi "Das Foucaultsche Pendel" oder zuletzt beim verschwörungstheoretischen Thriller "Nullnummer".

Um Krimis aber handelt es sich fast immer. Weil erst im Rätsel das Zeichenlesen zur Blüte gelangt. Weil im Rätsel ein Geheimnis schlummert. Und weil das Rätsel das eigentlich Wertvolle ist, nicht immer dessen vermeintliche Lösung. Auch darum waren die besten Lügengeschichten für ihn nie etwas Verwerfliches, sie waren seine Utopien.

Mit sehr leichter Schreibhand gelangen ihm die kleinen Brüder der Lüge, die feinen Parodien und Travestien, hinter denen noch ein wenig die Wahrheit hervorlugt. Eine grandiose Essay-Miniatur hat Eco sogar Kommissar Derrick und dessen unfassbarem Erfolg weltweit gewidmet. Entwaffnend seine Analyse: "Derrick gibt allen ein gutes Gefühl, auch denen, die sich für überlegen halten, denn er lässt in jedem von uns die Mittelmäßigkeit wieder aufblühen, die wir glaubten verdrängt zu haben."

So kommt man von einem Text zum andern - und umgeht doch das eine Buch, an das alle bei der Todesnachricht sofort dachten, das aber wegen seiner immensen Popularität den scheinbaren Makel der unterhaltsamen Massenware trägt: "Der Name der Rose", ein 50 Millionen mal verkaufter Weltbestseller, der dann noch mit seiner Verfilmung und vor allem mit Sean Connery in der Hauptrolle in das Gedächtnis der Menschheit überführt wurde.

Der mittelalterliche Kloster-Thriller war 1980 das literarische Romandebüt des fast 50-Jährigen. Publiziert hatte der Italiener freilich bis dahin schon manches: Journalistisches für den Tagesbedarf, Wissenschaftliches für die Ewigkeit. So kam es, dass ausgerechnet sein deutscher Verlag den Krimi ablehnte. 15.000 Mark wollte Suhrkamp damals nicht locker machen für einen Semiotiker, dessen frühere Bücher nur wenige hundert Mal verkauft wurden. Verlegerisches Künstlerpech.

In "Der Name der Rose" wird der Mönch William von Baskerville zu einem Sherlock Holmes des Mittelalters, der mysteriöse Morde und Selbstmorde in einer Abtei aufklärt und sich dabei als ziemlich kluger Leser und Zeichenleser erweist. Das ist für seine Zeit viel atemberaubender, als es uns heute erscheint. Denn dass plötzlich der menschliche Verstand und nicht mehr der Glaube ein paar Rätsel der Welt löst, grenzt an Gotteslästerung. William wird bei Eco zum Vorläufer der Aufklärung, die das Mittelalter noch nicht kennt; er steht also hoch über seiner Zeit. Ein Wissenschaftler moderner Prägung scheint im wahrheitssuchenden Mönch zu stecken.

Dieser Roman trägt eine der Zentralbotschaften Ecos - die heißt: Die Welt ist voller Zeichen, die zu entschlüsseln sind. Der Wahrheit kommt man dadurch ein ordentliches Stück näher, dem großen Geheimnis aber nicht. So wird auch der Krimi am Ende ohne Lösung bleiben, obgleich sich Wahrheitssucher im Buch haufenweise finden. Einer der spannendsten unter ihnen ist der blinde Abt Jorge, der wie eine Spinne in der unergründlichen Klosterbibliothek sitzt und mit dem Umberto Eco dem blinden argentinischen Dichter und Bibliothekar Jorge Luis Borges (1899-1986) ein vieldeutiges Denkmal setzte.

Die Bibliothek war für Eco stets mehr als nur eine Ansammlung von Büchern. Sie war ihm ein großes Labyrinth und damit ein Zeichen des Labyrinthes der Welt: "Trittst du ein, weißt du nicht, wie du wieder herauskommst", heißt es im Buch. Im Labyrinth zeigt sich sein Verständnis von Welt, weil darin die Grenzen unserer Erkenntnis erfahrbar werden. Das fing bei ihm in den eigenen vier Wänden an: Seine Privatbibliothek soll 50.000 Bücher umfassen. Vielleicht sollte man sich Eco auch besser als einen weltlichen Abt vorstellen, der von Zeit zu Zeit aus seiner Bücherwelt auftauchte, um die Welt da draußen mit Büchern zu bedenken. Mit unglaublichen, mit gelehrten, mit zornig politischen. Denn eins war er nie: ein Elfenbeintürmler. Eco hat sich stets auch an der Gegenwart und der Lage seines Landes gerieben. Silvio Berlusconi blieb ihm eine Reizfigur.

Jeder Roman wurde bei Eco zwangsläufig auch zu einem Buch über Bücher. Wie verwickelt dies allein im "Namen der Rosen" ist, lässt sich im Vorwort nachlesen. Die mittelalterliche Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die der Roman vorgibt, nachzuerzählen, gelangt nach manchen Übersetzungen und obskuren Besitzerwechseln bis nach Prag ins Revolutionsjahr 1968. Wer glaubt, dass allein die Publikationsfama das Zeug zu einem eigenen Roman hätte, könnte Recht haben.

Der Anlass zum Roman ist nach Ecos Worten ein geradezu niederer Beweggrund gewesen, die Kompensation einer Straftat gewissermaßen: "Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften." Zumindest gibt er sich darin als ein vehementer Agnostiker zu erkennen, der sich 1998 in einem bemerkenswerten Buch mit dem Mailänder Kardinal Martini über den Sinn des Glaubens und die Zeit nach dem Tode stritt. Eco: "Wer nicht gläubig ist, glaubt nicht, dass ihn jemand vom Himmel herab beobachtet, und folglich weiß er auch, dass es niemanden gibt, der ihm vergeben kann. Also wird er lieber, mehr als der Gläubige, die Vergebung der anderen erbitten." Und sei es durch den Versuch, dem Sinn der Welt mit Rätseln und einem Netz aus vielen großen und kleinen Lügengeschichten ein bisschen mehr auf die Schliche zu kommen.

(los)
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