Berlin Ludwig van Beethovens grimmiger Witz

Berlin · Legendäre Klavieraufnahmen von Emil Gilels, Swjatoslaw Richter und Friedrich Gulda veröffentlicht.

Manche Werke begleiten einen Musiker sein ganzes Leben. Andere Leute überreichen ihre Visitenkarte, er spielt sein persönliches Opus ultimum. Bei dem kanadischen Pianisten Glenn Gould waren es Bachs "Goldberg-Variationen", bei dem Geiger Jascha Heifetz war es das Brahms-Violinkonzert. Natürlich fielen die Interpretationen über die Jahre nicht wie Klone aus, sondern sie veränderten sich. Jetzt kann man drei großen Pianisten dabei zuhören, wie sie sich entwickelten und trotzdem über die Jahre treu blieben und ihre Claims absteckten.

Werfen wir einen Blick auf den bedeutenden Russen Emil Gilels (1916 bis 1985), so gilt er seit je als einer der bedeutenden Interpreten von Tschaikowskis bravourösem Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll. Jetzt können wir uns ein plastisches Bild machen, wie das Werk mit ihm durch die Zeit reiste, wie es sich unter seinen Händen verwandelte und wie die persönliche Reife ihm neue Einsichten zur Musik bescherte.

Die Sony hat sämtliche RCA- und Columbia-Aufnahmen Gilels' auf sieben CDs als Box herausgebracht, und wie durch einen Wink der Biografie ist zweimal das Tschaikowski-Konzert darunter - einmal von 1955 mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner und einmal von 1979 mit den New Yorker Philharmonikern unter Zubin Mehta. Bewundernswert ist bei beiden Aufnahmen die Stabilität, die manuelle Sicherheit eines stilvollen Haudegens. Gilels' Oktaven donnern stets wie gestanzt; bei schnellem Passagenwerk gibt es über die Jahre kaum Gleichlaufschwankungen. Hingegen frappiert der langsame Satz, den Gilels 1955 ungewöhnlich breit zelebrierte. Auch Reiner war ja eher ein Sprinter als ein Schlenderer. Wer hat da wen angesteckt? Ein Andantino ist das jedenfalls nicht. Doch wenn nach kurzer Zeit das Prestissimo hereinbricht, ist der Kontrast gigantisch. Später, 1979, wirkt das weniger extrem.

Mit in der Box sind noch Werke von Liszt (h-Moll-Sonate), Brahms, Schubert, Schostakowitsch und Chopin. Sie präsentieren uns einen mutigen, noblen Ritter der 88 Tasten. Das kann man auch von dem anderen großen Russen Swjatoslaw Richter (1915 bis 1997) sagen, dessen gesamte Eurodisc-Aufnahmen jetzt auf zwölf CDs vorliegen. Im Gegensatz zu Gilels war Richters pianistischer Zugriff emotionaler, direkter, auch irrationaler; das merkt man beispielsweise bei Richters Interpretation des "Wohltemperierten Klaviers" von Bach. Sein Schumann (Symphonische Etüden) hat etwas Jähes, Überrumpelndes, da operiert einer nicht nur mit seinen Instrumenten, er zeigt sie auch. Bei Rachmaninow-Etüden dringen Schaum und Waffenlärm aus dem Flügel, Richter - man hört es - hatte Spaß daran zu triumphieren.

Eine besondere Entdeckung ist die Wiederveröffentlichung der legendären Aufnahme von Beethovens "Diabelli-Variationen", die Friedrich Gulda 1970 im MPS-Tonstudio von Hans Georg Brunner-Schwer in Villingen-Schwenningen gemacht hat. Dies ist die vermutlich nüchternste und zugleich explosivste Aufnahme des Werkes. Die Mikrofone hingen sozusagen im Resonanzkasten des Flügels, man wohnt einer klingenden Computertomografie bei. Auf der anderen Seite: Guldas ungeheuer belebte Tempi, sein grimmiger Witz, der etwas Erheiterndes, aber auch Zerstörerisches hat. Es ist wie Striptease mit Beethoven. Eine fabelhafte Platte.

(w.g.)
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