London Lebensbilanz eines Gejagten

London · Vor 23 Jahren sprach der religiöse Anführer des Iran ein Todesurteil gegen den britischen Autor Salman Rushdie aus. Der musste sich fortan im Untergrund verstecken, konnte keinen Schritt mehr ohne Leibwächter tun. 2002 ging er nach New York. Jetzt legt Rushdie seine Memoiren vor.

Die Anruferin legte ganz offensichtlich keinen Wert darauf, dem bekannten Schriftsteller die schlechte Nachricht schonend beizubringen. "Wie fühlen Sie sich", fragte die BBC-Reporterin am Telefon, "angesichts der Tatsache, dass der Ajatollah Khomeini Sie gerade zum Tod verurteilt hat?" Er sagte: "Nicht gut" und dachte: "Ich bin ein toter Mann".

So beginnt die distanzierte, verstörende Autobiografie eines von religiösen Fanatikern gejagten Mannes namens Joseph Anton. Hinter dem Pseudonym steckt der 65 Jahre alte Brite Salman Rushdie, der sich in seinem neuen Buch den düsteren Geistern seiner Vergangenheit stellt. Es ist 23 Jahre her, seit der religiöse Anführer des Iran mit seiner "Fatwa" gegen den Verfasser der "Satanischen Verse" muslimische Protestmärsche, Bücherverbrennungen und Morde an angeblichen "Gotteslästerern" in vielen Ländern ausgelöst hat. Der in den USA lebende und 2007 zum Ritter geschlagene Sir Salman ist trotz der zahllosen Todesdrohungen und des ausgesetzten Kopfgeldes (es wurde neulich auf 3,3 Millionen Dollar erhöht) am Leben geblieben.

In seinen 633 Seiten langen Memoiren verrät der kritische Muslim jetzt erstmals im Detail, welchen hohen Preis "Joseph Anton" in all den Jahren als Flüchtling gezahlt hat. Dieser Name war seine erste Strafe. Er war eine Bedingung der Polizei, die den Londoner gleich nach dem iranischen Todesurteil am Valentinstag 1989 untertauchen ließ. "Wie bei Voldemort in den noch nicht geschriebenen Harry Potter-Büchern durfte sein eigener Name nicht mehr ausgesprochen werden, er war nutzlos", erinnert sich im Buch Rushdie. Der Romanautor kombinierte die Namen seiner Lieblingsschriftsteller Joseph Conrad und Anton Tschechow und verwandelte sich selbst in eine "fiktionale Figur". Die Realität war äußerst unerfreulich. Der "verunsicherte und entmutigte" Schein-Herausgeber Joseph Anton verbrachte sein erstes Wochenende auf der Flucht eingesperrt in einem Hotelzimmer in Worcestershire. Dann nahm er das Angebot einer befreundeten Literaturagentin an, für ein paar Wochen in ihr entlegenes Ferienhaus in Wales zu ziehen. So fing ein heimliches Nomadenleben unter permanenter Überwachung an, das ein Jahrzehnt dauern sollte. Rushdies Polizeischutz kostete den Staat jährlich eine Million Pfund, und die Bodyguards begleiteten ihn sogar bis zur Toilette. Dafür musste der angebliche Feind des Islam selbst für seine Unterkunft sorgen. Es sei nicht einfach gewesen, vor einem Umzug in ein Londoner Haus dem Architekten zu erklären, wozu "Mr. Anton" kugelsichere Fenster und einen Schutzraum im ersten Stock brauchen würde, schreibt er im Buch. Rushdie erinnert sich, wie er überallhin in einem gepanzerten Jaguar kutschiert wurde und wie seine Leibwächter für ihn die Türen aufrissen. "Ich fühlte mich aber nicht wie ein Star, sondern wie ein Häftling", sagte der gebürtige Inder in einem Interview zur Buchveröffentlichung. Er bereut es heute, sich darauf eingelassen zu haben. "Ich hätte zu Hause bleiben sollen. Aber wir alle dachten damals, dass sich der Sturm in ein paar Tagen legen würde". Sein zweiter Fehler war, sich 1990 für die "Satanischen Verse" öffentlich entschuldigt zu haben. Rushdie ist stolz auf sein Buch, das er zu seinen besten Werken zählt. "Damals musste ich mich aber zu meinem Glauben bekennen, um zu überleben. Ich fühlte mich krank danach", sagt er in Interviews. Es nützte nicht viel. Immerhin sei Joseph Anton mutig genug gewesen, entgegen den Empfehlungen der Polizei weder eine Perücke noch eine kugelsichere Weste zu tragen. "Er wollte sich nicht ducken, sondern mit erhobenem Kopf gehen", heißt es in der Autobiografie.

Es gab auch heitere Momente. So wurde Rushdie später zum Partystar, weil die Frauen angeblich nach seinen "gut aussehenden und fitten Leibwächtern" verrückt waren. Daheim standen jedoch die Zeichen auf Sturm. Die Belastungen ließen seine vier Ehen in die Brüche gehen. Der depressive Brite suchte Halt in der Arbeit. Er schrieb Romane, Kritiken und Zeitungsartikel. 2002 gab er schließlich seinen Polizeischutz auf und zog nach New York. Das gejagte Phantom Joseph Anton blieb zurück. Dafür fand der befreite Salman Rushdie nach eigenen Worten in den USA seinen Selenfrieden wieder. Der meistgehasste und meistverfolgte Schriftsteller der Welt ist gealtert und desillusioniert, aber er will sich weiter nicht den Mund verbieten lassen. Sir Salman nennt die jüngsten muslimischen Proteste "falsch und unzivilisiert" und er ruft die Menschen im Westen dazu auf, im "Klima der Angst und Nervosität" nicht dem Druck der religiösen Extremisten nachzugeben. "Wir müssen mutig sein. In einer freien Gesellschaft darf jeder seine Meinung äußern."

(RP)
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