Sechs Uraufführungen in Theatern Odyssee durchs Ruhrgebiet

Essen (RP). Sechs Uraufführungen an einem Wochenende an sechs Theatern des Ruhrgebiets – die "Odyssee Europa" ist eines der ambitioniertesten Projekte während des Kulturhauptstadtjahrs. Zwar gibt es inhaltliche Schwächen, doch die liebevoll organisierte Irrfahrt ist ein Erlebnis.

Frostiger Start für die Kulturhauptstadt
20 Bilder

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Essen (RP). Sechs Uraufführungen an einem Wochenende an sechs Theatern des Ruhrgebiets — die "Odyssee Europa" ist eines der ambitioniertesten Projekte während des Kulturhauptstadtjahrs. Zwar gibt es inhaltliche Schwächen, doch die liebevoll organisierte Irrfahrt ist ein Erlebnis.

Die Irrfahrt beginnt mit einem Vatermord. Odysseus ist endlich wieder daheim in Ithaka. Doch die Odyssee hat ihn zu einem müden Krieger gemacht mit kahlem Schädel, vernarbter Nase, starrem Blick. Sein Sohn ist trotzdem fasziniert von den blutigen Heldentaten des Vaters. Er will stark sein wie Odysseus. Unabhängig sein wie Odysseus. Darum tötet er Odysseus, den lang ersehnten Vater, bei sphärisch-dräuender Gitarrenmusik in grünlichem Zwielicht.

Schnell hinaus. Die Beklemmung abschütteln nach dieser atmosphärisch starken ersten Uraufführung von "Areteia" des polnischen Autors Grzegorz Jarzyna. Ein kühler Wind zieht um das Essener Grillo-Theater. Davor stehen Menschen im Halbkreis, halten Schilder hoch wie bei einer Demo. Es sind die Gastgeber der Theater-Odyssee. Denn diese Reise ist nicht nur ein Stücke-Marathon, sondern auch eine Erkundung des Ruhrgebiets mit Übernachtung bei Gastfamilien. Und die suchen nun ihre Gäste.

Ulrike Geldmacher und Arno Kleinlützum aus Moers zum Beispiel. Fünf Kinder haben die beiden, alle sind aus dem Haus. So ist Platz für Gäste. Und da ist dieser Kitzel, einen Fremden bei sich aufzunehmen. Vier Stunden bleiben bis zum nächsten Theatergang. Kennenlernzeit. Ein Abstecher zur Zeche Zollverein. Industriedenkmal bestaunen, Suppe essen, aus dem Leben erzählen. Schauen, wie er ist, der Gast, der Fremde.

Bochum

Dann nach Bochum. Roland Schimmelpfennig hat den elften Gesang der "Odyssee" neu geschrieben. Ein fein ziselierter Text über einen Odysseus, der nach all dem Töten auf Trojas Schlachtfeld nicht nach Hause findet. Doch Regisseurin Lisa Nielebock ist dazu wenig eingefallen. Gefangen in einem kahlen Holzkasten sagen die Schauspieler ihren Text auf. Dazu tristes Video-Geflimmer. Immerhin das bleibt: Wolfgang Michael als schnoddriger, schlaksiger, schlunziger Odysseus. Und Peymann, der zu Besuch in seinem früheren Theater "Buh" gerufen haben soll.

Ein paar Kilometer weiter wartet schon die Santa Monica. Das Ausflugschiff hat den Charme muffiger 70er-Jahre-Partykeller. Im Speisesaal bunte Lampions, es gibt Braten nach Großmutter-Art. Man witzelt über das Ambiente und streitet im Dunst von Omas Sauerkraut vorsichtig über Theater — noch sind auch die Mitreisenden ja Fremde.

Oberhausen

Sirenensignal. In Oberhausen starren vier ramponierte Männer hinauf zu ihr: Penelope. Odysseus ist verschollen, nun lagern die Freier in seinem Swimming-Pool, hoffen auf ihre Chance bei der Gattin. Doch die schweigt. Seit Jahren. Und so sind die Freier bierbäuchige Camping-Grill-Helden geworden, die ihren Frust aneinander auslassen. Grell, schnell und mit unbedingtem Willen zur Lächerlichkeit hat Tilman Knabe die Farce von Enda Walsh inszeniert. Am Ende wird es die mitreißendste Odyssee-Verwandlung dieser Reise sein.

Spät ist es nun schon, doch die Gastgeber laden noch in den Duisburger Innenhafen. Da spiegelt sich Strukturwandel eitel im Wasser — viel los in den Restaurants am Hafenbecken. Man hat nun schon ein Bild voneinander — Gastgeber und Gast —, kann weiter erzählen, auch von den Brüchen sprechen, die es gab. So wird das eigene Leben für das Ohr des Besuchers, des Fremden, zur Geschichtensammlung.

Moers

Klarinettenmelodie, Paukenschlag, Motorgeknatter. Am Moerser Schlosstheater fährt türkische Folklore auf einem Mopedlaster ein. In Sevgi Özdamars Drama "Perikizi" lässt ein Mädchen diese Tradition hinter sich, bricht auf nach Europa, doch ergeht es ihr dort schlecht. Keine Bleibe, Niedrigstlohnarbeit, Zwangsprostitution — Migration als Odyssee. Leider häuft das Stück arg viele Probleme an. Intendant Ulrich Greb müht sich zwar, daraus fantasievolles Theater zu machen, greift tief in die Effekte-Kiste, lässt Schauspieler schaukeln, rollschuhlaufen, Seifenblasen pusten. Das wirkt alles ein bisschen altbacken und überfrachtet ein ohnehin zu volles Stück. Langeweile aber kommt nicht auf in der Schlosstheaterhalle, die an diesem Morgen eine Schau- und Zauberbude ist.

Mülheim an der Ruhr

Wie viel gelassener geht Roberto Ciulli da ans Werk. Den wohl hermetischsten Text dieser Reise, verfasst vom ungarischen Autor Péter Nádas, stellt er in starke Bilder. Menschen, die keine eigenen Worte mehr haben für ihr Empfinden, weil Individualität in der Massengesellschaft Illusion geworden ist, stehen gebannt vor Spielautomaten. Später werden sie von Gewalt als dem Kontinuum der Geschichte berichten und am Ende ihr Publikum hinausführen aus dem Theater vor einen Müllberg, auf dem Nike als Engel spricht. Und das Publikum steht im Regen, blickt auf diese Szene eines Albtraums, doch sind die Regentropfen real, das Theater ist in der Wirklichkeit angekommen.

Klamme Kleider, klammes Gefühl, doch die Busse warten schon. Es geht zu einem alten Straßenbahndepot in Dortmund. Für 400 Irrfahrer ist dort die Tafel gedeckt. Türkisches Festmahl, lebhafte Diskussionen. Die Reisenden fühlen sich nicht mehr wie Fremde. Und das Theater hat etwas Großes bewiesen: dass es Menschen zueinanderbringen, ins Gespräch lenken, zum Nachdenken verführen kann.

Dortmund

Noch einmal ist nun von Odysseus, dem blutigen Kämpfer, die Rede. Seltsam, nicht der neugierige Irrfahrer oder listige Held hat die Autoren dieser Odyssee gefesselt, sondern der gebrochene Krieger. Auch bei Christoph Ransmayr geht es um den Heimkehrer Odysseus, der sein Haus in schlechtester Ordnung vorfindet und gezeichnet ist von den Schlachten seiner Reise. Noch einmal trifft er auf seinen Sohn und ist ihm ein zweifelhaftes Vorbild. In Dortmund erstarrt der Text in einer Inszenierung, die sich hinter Masken verschanzt. Doch spielt das keine Rolle mehr. Genauso wenig wie die Frage, warum den Autoren dieser "Odyssee Europa" so wenig zu Europa eingefallen ist. Die Zuschauer sind jetzt angelangt, haben Theaterwelten durchschritten, Regiehandschriften verglichen, Odysseen durchlitten, sind erschöpft. Und wie es aussieht, glücklich.

(RP)
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