Künstler Anselm Kiefer im Interview Menschen noch nicht reif für Atomenergie

Baden-Baden (RP). Der Maler und Objektkünstler Anselm Kiefer (66) zählt mit Gerhard Richter und Georg Baselitz zu den großen, international bekannten deutschen Künstlern der Gegenwart. Zurzeit zeigt er im Baden-Badener Museum Frieder Burda eine Reihe überwältigender Bilder.

 Künstler Anselm Kiefer möchte gerne das AKW Mülheim-Kärlich kaufen.

Künstler Anselm Kiefer möchte gerne das AKW Mülheim-Kärlich kaufen.

Foto: ddp, ddp

Schrundige, zerklüftete Monumentalbilder überwältigen den Betrachter. Werke von Anselm Kiefer, einem der bedeutendsten deutschen Künstler — sie erzielen auf dem Kunstmarkt Summen von mehr als zwei Millionen Euro —, schlagen zurzeit die Besucher des Baden-Badener Museums Frieder Burda in ihren Bann. Die Bilder durchstreifen motivisch die Weltgeschichte und bauen dabei nicht nur auf Leinwand, sondern auch auf Blei. Das alles wirkt materiell und gedanklich schwer. In den hohen Räumen des neuen, vom amerikanischen Architekten Richard Meier entworfenen Hauses entfalten die Werke ihre Wucht. Zwischen den bis zu fünf mal sieben Meter messenden Bildern sprachen wir mit dem Künstler.

Sie stammen aus Donaueschingen, sind aber auch Rheinländer, weil Sie in Düsseldorf einen Künstler kennen lernten, der für Ihre Entwicklung große Bedeutung hatte.

Kiefer Man sagt oft, ich hätte in Düsseldorf bei Beuys studiert; das stimmt aber nicht. Ich habe Beuys gekannt, bin in den 1970er Jahren öfters in meinem Käfer vom Odenwald nach Düsseldorf gefahren, um ihm meine Bilder zu zeigen, die ich vor der Fahrt zusammengerollt hatte.

Und wo haben Sie bei ihm angeknüpft?

Kiefer Ich habe in der Provinz studiert, und als ich Beuys zum ersten Mal traf, habe ich gemerkt, dass unsere Themen ähnlich sind. Beuys war auch der erste, der meine damaligen Aktionen als Kunst wahrnahm. Das hat mich sehr glücklich gemacht.

Was gibt bei Ihnen den Ausschlag für ein Kunstwerk — das Material?

Kiefer Bei diesem Bild hier (zeigt auf "Lilith" von 1987/90) waren Fotos, die ich in Sao Paulo gemacht habe, der Ausgangspunkt. Damals habe ich drei Tage lang aus einem Hubschrauber die Stadt fotografiert. Sao Paulo ist ja eine Metropole von unglaublichem Wildwuchs. Da gibt es Hochhäuser und dann wieder Favelas. Ich habe anhand von Fotos die Stadt gemalt. Und dann habe ich an die biblische Gestalt Lilith gedacht, Lilith, die in den verlassenen Ruinen wohnt. Dabei fragte ich mich: Was sagt mir diese Stadt? Und ich dachte an das Ende der Stadt, die Auflösung in Asche, an die kreisförmige Bewegung aller Zeit.

Das Thema Tod spielt dabei also eine Rolle.

Kiefer Der Tod ist immer vorhanden. Ohne Tod gibt es kein Leben.

Wenn von Ihrer Kunst die Rede ist, fällt oft das Wort Mythologie.

Kiefer Die Mythologie ist ja die einzige Form der Darstellung, welche die Welt als Ganzes erfasst. Und die Kunst auch.

Es gibt unterschiedliche Mythologien in unterschiedlichen Kulturkreisen. Bei Ihnen habe ich den Eindruck, dass Sie sich überall bedienen, wo Sie etwas für Ihre Arbeit zu finden hoffen.

Kiefer Wenn man mal genau hinschaut, sieht man, dass alle Kulturkreise mit allen verbunden sind. Es geht immer um dasselbe. Es gibt zum Beispiel die Mythologie vom Schmied, das Wölund-Lied in der "Edda", und dann gibt es auch in Ägypten eine Mythologie vom Schmied. Diese Mythen ähneln einander.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Christentum für Sie?

Kiefer Das Christentum ist meine Wurzel. Als ich das erste Mal in Jerusalem war, 1984 oder 1985, hatte ich das merkwürdige Gefühl, als käme ich an einen Ort, den ich schon längst kannte.

Werfen wir einen Blick auf ein Bild von 2009, das Sie jetzt im Burda-Museum erstmals öffentlich zeigen: "Der fruchtbare Halbmond". Die Arbeit bezieht sich auf den Turm von Babylon, der aufgrund der Sprachverwirrung zwischen seinen Erbauern zusammenbrach. Das Werk zielt auf eine Annäherung zwischen islamischer und christlicher Welt — oder ist das zu einfach gedacht?

Kiefer Nein, das ist auf jeden Fall darin enthalten, ebenso wie der "West-östliche Divan" von Goethe. In dem Gebiet des "Fruchtbaren Halbmonds" — es erstreckt sich von Ägypten über die Türkei und Mesopotamien bis ans Rote Meer — ist vor 10 000 Jahren unsere Kultur entstanden. Mein Gedanke ist dieser: Was sich zurzeit kriegerisch gegenübersteht, kann ja auch wieder zusammenkommen. Wir trennen heute so strikt zwischen christlich und muslimisch — dabei ist das Unfug. Unsere gesamte griechische Philosophie ist auf uns durch die Araber gekommen. Die Konfrontation, die wir zurzeit erleben, kann doch nur etwas Vorübergehendes sein.

Zerfällt Ihr Turm von Babel?

Kiefer Das ist nicht der Turm von Babel, sondern eine Ziegelfabrik, die ich in Indien fotografiert habe. Bei solchen Fabriken ist die Fabrik gleichzeitig das Material, das sie herstellen. Wenn die Ziegel fertig sind, bauen die Arbeiter das Ganze einfach wieder ab.

Ich habe dennoch den Eindruck, dass da ein Gebäude auseinanderbricht.

Kiefer Das macht ja nichts, wenn es auseinanderbricht. Dann gibt's immer wieder etwas Neues. Da ist die Ziegelei ein Sinnbild von Werden und Vergehen. Und das Vergehen ist ja immer auch ein Werden.

Ein weiteres großes Thema in Ihrem Schaffen ist der Kosmos.

Kiefer Ja, der Mikro- und der Makrokosmos. Wir sind der Mikrokosmos.

Was fasziniert Sie daran?

Kiefer Das ist die große Frage, die Einstein nicht gelöst hat: Es gibt kein Gesetz, das gleichzeitig im Makro- und im Mikrokosmos gilt. Robert Fludd hat im 17. Jahrhundert eine solche Entsprechung auf künstlerische Weise hergestellt. Er sagte, jeder Pflanze entspreche im Himmel ein Stern. Das ist ein wunderbar poetischer, aber auch utopischer Ausspruch.

Alchemie — das ist auch so ein Wort, auf das man trifft, wo von Ihrer Kunst die Rede ist.

Kiefer Richtig, die Ursprünge der Chemie liegen in der Alchemie. Alles, was in der Alchemie vorkommt, kommt in unserer Gegenwart ebenfalls vor. Zum Beispiel die Warnung vor zu schnellem Vorgehen. Was in den alten Büchern der Alchemie über Gefahren steht, das kann man heute auf die Atomkraft anwenden. Wörtlich sogar. Da heißt es zum Beispiel: Einer, der Alchemie betreibt, muss eine gewisse Geistesverfassung haben. Er muss rein sein, sonst macht er Unfug. So kann man auch heute sagen: Die Atomenergie ist eigentlich eine wunderbare Form der Energie. Bloß: die Menschen beherrschen diese Technik noch nicht; sie sind noch nicht so weit.

Wenn Sie sich einordnen sollten zwischen den Polen konservativ und progressiv — wo würden Sie sich da sehen?

Kiefer Ich sehe mich in beidem. Ich gehe zurück, aber gleichzeitig auch vorwärts.

Wie kamen Sie dazu, sich mit dem russischen Dichter Welimir Chlebnikow zu befassen?

Kiefer Anfang der 1970er Jahre brachte der Rowohlt-Verlag sein Werk in zwei Bänden heraus. Ich fand es so toll, dass ich mich mit ihm seitdem immer wieder befasst habe. Das ist ja Dadaismus. Etwa die Behauptung, dass alle123 Jahre (oder nach einem Vielfachen dieser Zahl) eine wichtige Schlacht stattfindet. Chlebnikow hat ein riesiges System erfunden, das völlig plemplem ist. Man findet natürlich immer eine kleine Schlacht. Man kann alles so drehen, dass es in das System passt. Das ist ein Versuch, die Welt zu erklären.

(RP)
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