Düsseldorf Ein Klon singt selten allein

(RP). Musik von heute für heute: Jörg Widmanns Oper "Das Gesicht im Spiegel" erlebte eine beeindruckende Premiere im Düsseldorfer Haus der Deutschen Oper am Rhein. Es geht um das bedrückende Eheleben von Börsenmaklern und die Geburt eines Klons.

An alle Damen, die vor dem Besuch von "Das Gesicht im Spiegel" hoffen, sich am stillen Örtchen im Opernhaus letztmalig aufhübschen zu können: Es wird misslingen. Alle Spiegel in der Düsseldorfer Rheinoper sind mit weißer Farbe übermalt. Nicht anders in der Herrenabteilung — auch dort arbeiten die Kämme blindlings.

Jörg Widmanns Oper behandelt das Thema des Bilderverbots, aber nicht als Variation über alttestamentarische Gottesbegrifflichkeit, sondern als Parabel über den atemberaubenden Fortschritt einer Moderne, der in der Retorte endet. Ein Erfinder konstruiert einem übellaunigen Ehepaar, das über die gemeinsamen Erfolge an der Börse seine Intimität verloren hat, einen genialischen Klon der Frau — zur originalen Patrizia gesellt sich Justine, die Summe aus Aminosäuren, ein Mutant mit Frisur, Taille und Liebreiz. Diese Frau lernt das Summen, das Stammeln, das Sprechen, das Fühlen, das Lieben. Sie weiß nur nicht, wer sie ist und wie sie aussieht; alle Spiegel im Haus sind blindgemalt. Auch Bruno verliebt sich — die scheue Justine ist ja so, wie Patrizia einmal war.

Das Glück ist nur von kurzer Dauer, Bruno stirbt bei einem Flugzeugabsturz. Justines Unglück hingegen ist ewig und zweifach, denn Patrizia hat für sie ein böses Eckchen im verschlierten Spiegel auf der Bühne freigewischt, Justine sieht, dass sie nichts ist als ein gehasstes Abbild. Als sie ihre Existenz als Duplikat durchs eigene Messer auslöschen will, misslingt der Suizid: Unsterbliche aus dem Reagenzglas können sich nicht umbringen.

Am Ende steht Justine mit dem Dolch in der Hand vorn auf der Bühne, wie eingefroren, während im Hintergrund eine wüste Welt versinkt. Der Beziehungskäfig als brutal schaukelnde Waage: steht still. Das wütende Hubpodest: erlahmt. Die Laboratorien und Börsencomputer: erloschen. Das Trara um Nasdaq und Nikkei: verhallt. Es ist das Finale einer phänomenalen Theaterleistung, in der ein Haus seine Muskeln spielen lässt und einen wahrhaft modernen Stoff mit äußerster Verdichtung, mit Poesie und visueller Wucht realisiert.

Zunächst aber spielt es mit der Luft und dem Hauch, denn Widmanns Musik ist überaus zart, wandlungsfreudig und originell, neben Knarzern aus der Posaune faucht ein Akkordeon, das Instrument der atmenden Wehmut. Zugleich gibt es weite Zonen eines alles versengenden instrumentalen Furors, einer äußerst zugespitzten Energie — das ist wirklich Musik von heute für heute. Die Düsseldorfer Symphoniker spielen mit größter Virtuosität, bannend im Kollektiv, glasbläserisch im Detail. Unglaublich, wie dezent und entspannt GMD Axel Kober am Pult das alles koordiniert.

Gregor Horres (Regie), Jan Bammes (Bühne) und Yvonne Forster (Kostüme) haben das futuristische Element des Stoffs, der auf ein Libretto von Roland Schimmelpfennig zurückgeht, einschlägig gedeutet. Man trägt Kleidung in herb metallischem Design, irgendwie zwischen Weltraum-Saga und Prêt-à-porter, aus weißen Kuben klappen Monitore für die Welt der Börse und der Moleküle auf. Die Leute sind alle ein bisschen neben der Spur, extrem aufgekratzt, und die Reproduktion eines künstlichen Menschen wird in einer Mega-Pressekonferenz abgefeiert. Die Zeichen einer modernen Inszenierung werden nur leicht durch den Wimmelcharakter der Bilder getrübt.

Der Künstler Mischa Kuball hat die Bilder in einer Art spirituellem Tuning mobilisiert, sie geistern in digitalen Buchstaben-Sequenzen über die Wände, eine Videokamera ist den Leuten fortwährend auf der Spur, aber nie hat man den Eindruck der Wichtigtuerei. Das Licht haben Kuball und Volker Weinhart nicht als Flimmer des Atmosphärischen, sondern als herbe Materie gedeutet. Manchmal fällt es hart wie Stahl auf die Bühne, manchmal leuchtet es wie durch Milchglas.

Trotzdem, getragen wird die Premiere vor allem durch die glühende Intensität der vier Hauptdarsteller. Anett Fritsch sirrt sich kolibrigleich durch endlose Koloraturen, Sarah Maria Sun schnaubt ihre Eifersucht großartig wie eine Medea, die ihr Kind, den Klon, zu richten sucht. James Bobby als Bruno gibt perfekt den tenoral hochfahrenden Börsenturner, der in Liebesdingen lyrisch wird. Stefan Heidemann dekliniert das Biologie-Lexikon des Erfinders Milton mit fast lakonischer Grausamkeit. Ja, und da ist dann noch der geheime Star des Abends: der Kinderchor der Clara-Schumann-Musikschule unter Justine Wanat, der mit hinreißender Intonation, inniger Strahlkraft und messerscharf skandiertem Internet-Deutsch den Abend von diversen Positionen aus anheizt und läutert.

2005 spielte schon das Theater Krefeld/Mönchengladbach dieses "Gesicht im Spiegel" — es wurde ein Triumph, ein Kassenschlager. Auch der Düsseldorfer Produktion sollte diese Resonanz vergönnt sein. Vermutlich ist es Ausdruck des Werks, dass es Höchstleistungen gebiert. — Großer Jubel.

(RP)
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