Knapp am deutschen Sieg vorbei

Der Erste Weltkrieg stand lang "auf Messers Schneide", behauptet ein neues Buch.

In jedem Krieg bleibt die Wahrheit auf der Strecke, auch im Ersten Weltkrieg. Im Zuge des aufziehenden totalen Kriegs gab es allerdings etwas qualitativ Neues: die Entwicklung der schwarzen Propaganda, um im Massenzeitalter ganze Völker zu emotionalisieren. Dies hatte gravierende Auswirkungen, indem es das politische Klima vergiftete, zu Beginn und am Ende des Kriegs. Zu nennen sind hier zunächst die "Kriegsschuldlüge" und dann die "Dolchstoßlüge".

Hinzu kam, dass lange eben nicht klar war, wer den Krieg gewinnen würde, der nie zuvor gekannte Opferzahlen forderte und auch nach der provozierten Kriegserklärung der USA noch fast bis zum Schluss "auf Messers Schneide" stand. So lautet denn auch der Titel des neuen Buches zur deutschen Kriegführung, das von Holger Afflerbach, Professor für Europäische Geschichte an der Universität Leeds, jetzt veröffentlicht wurde. Um es gleich vorweg zu sagen, es handelt sich um ein solides Geschichtswerk, bei dem es weniger um den Weg in den Krieg, sondern mehr um die Ursachen der Niederlage geht.

Das Buch gliedert sich in drei Teile, die sich mit der ersten Hälfte des Kriegs bis zum zwischenzeitlichen Scheitern der Alliierten im Sommer 1916, dem Scheitelpunkt des Kriegs, bis zum "verspielten Remis" durch die Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Kriegs Anfang 1917 sowie mit Deutschlands Niederlage "und der Zerstörung des alten Europa" befassen. Es geht erklärtermaßen nicht zuletzt auch um die Schlachten und ihre Folgen, die strategischen Weichenstellungen und ihre Gründe. Elf gut gestaltete, übersichtliche Karten sowie Personen- und Ortsregister runden einen insgesamt erfreulichen Beitrag zum großen Krieg ab.

Das Buch ist flüssig geschrieben und macht vor allem deutlich, was das chaotische wilhelminische politische System alles falsch machen musste, um einen Krieg knapp zu verlieren, der "zentral für die weitere Entwicklung des 20. Jahrhunderts war". Völlig zu Recht sprach Sebastian Haffner schon 1964 von den "Todsünden des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg", auch wenn man sich dem nicht in allen Punkten anschließen muss. Und ebenfalls völlig zu Recht weist Afflerbeck heute darauf hin, dass das "wirkliche Problem" der mangelnde Friedenswille der Alliierten war: "Die deutsche Macht sollte gebrochen werden."

Dies lag nicht zuletzt daran, dass die britische Führung sich im Ersten Weltkrieg an dem Hegemonialkrieg gegen Napoleon orientierte, gegen den nicht der Kompromiss, sondern nur der vollständige Sieg geholfen habe, einmal abgesehen von Frankreichs Wunsch nach Rückgewinnung Elsass-Lothringens und den Schwierigkeiten, in einer großen Koalition die Kriegsziele aller Partner unter einen Hut zu bringen. Der Brite Niall Ferguson hat vor Jahren bereits auf die Fragwürdigkeit dieses Vergleichs hingewiesen.

Hatten die vor vier Jahren zum Ausbruch des Weltkrieges vorgelegten Bücher sich naturgemäß mehr mit seinem Beginn befasst, teilweise mit dem Ergebnis, dass die These von einer Haupt- oder gar Alleinschuld Deutschlands falsch sei, so kommt das neue Buch von Afflerbach zu Recht zum Ergebnis, dass von einem Dolchstoß der Heimat in den Rücken des Heeres kaum die Rede sein kann: "Wir blicken auf ein katastrophales Scheitern der deutschen Politik, und nichts kann und darf diese Erkenntnis verwässern."

(RP)
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