Kiplings wundersame Welt der Tiere

Vor 150 Jahren wurde der britische Autor geboren. "Das Dschungelbuch" - sein berühmtestes Werk - ist jetzt in neuer Übersetzung erschienen.

Hätte es diese Neuübersetzung nicht gegeben, mit der uns der Klassiker in die Hände gespült wurde, wären wir wahrscheinlich bis zum Sankt Nimmerleinstag dem Glauben verfallen, das Dschungelbuch sei eine drollige Fabel. Eine Art Versuchs-mal-mit-Gemütlichkeit-Geschichte für Kleinkinder ab dreieinhalb Jahren. Welch ein Irrtum! Rudyard Kiplings "Dschungelbuch" ist ein kluges, zivilisationskritisches Werk, und jeder Versuch, es zu verniedlichen, spricht im Grunde für unsere Abwehr, die Geschichte des Menschenwelpen Mogli wirklich ernstzunehmen.

Weil das Buch in vielerlei Hinsicht ein Dschungel ist und man sich ihm auf vielen Pfaden nähern kann, beginnen wir einfach beim Autor. Rudyard Kipling wird vor 150 Jahren in Bombay geboren, hinein in einen kolonialem Komfort. Eine Kindheitsidylle darf er unter Palmen leben.

Doch wie das Leben des Wolfsjungen zwischen der Freiheit des Dschungels und der engen Welt der Zivilisation steht, so muss auch Kipling Schattenseiten unserer Existenz kennenlernen: Mit fünf Jahren wird er 1871 nach England eingeschifft, damals ein üblicher Bildungsweg für junge, in Indien geborene Briten. Doch seine Gastfamilie entpuppt sich als Hort ausgemachter Sadisten. Der Junge wird schikaniert und geschlagen und zur Schule mit einem Schild geschickt, auf dem "Lügner" steht. Das Trauma seiner Jugend macht das Dschungelbuch zwar nicht zur Autobiographie; doch es zu kennen, bereichert die Lektüre.

Kipling wird Journalist und Geschichtenerzähler, er wird nach Amerika ziehen und sich dort in die Wildnis seiner Kindheit zurückschreiben. 1894 und 1895 erscheinen beide Dschungelbuch-Teile, die eigentlich kaum mehr als eine lose Ansammlung von Geschichten sind. In ihrem Zentrum steht Mogli, der nackte Frosch, wie die Wölfe ihren fell-losen Zögling nennen. Und ihm zur Seite stehen Baghira, der schwarze Panther, und vor allem Balu, der weise Bär. Er führt den kleinen Helden in die Gesetze des Dschungels ein, und wenn er dazu manchmal auch seine Pranke einsetzen muss, wird Mogli das Wissen im schmerzhaftesten Sinne des Wortes eingebläut.

So gibt es den "Wasserfrieden" in Zeiten der Dürre, in der an den Trinkstellen nicht gejagt darf. Die Tiger aber missachteten einst dieses Gesetz, brachten Tod und Angst in die Welt. Es ist der Sündenfall des Dschungels, der in Schir Khan, dem Tiger und größten Feind des Jungen, seinen Wiedergänger findet. Doch der neue König der Tiere hinkt von Geburt an, ein Versehrter, eine gebrochene Existenz auch er.

Was uns erzählt wird, ist vielleicht auch Kipling nicht klar gewesen. Aus der sicheren Distanz des 21. Jahrhunderts lässt sich leichter erkennen, dass mit Mogli die letztgültige Entfremdung des Menschen zur Natur eintritt, dass die Umwelt zum Feind erklärt wird und mit industriellen Mitteln unterworfen werden kann. Das Gefühl der Allmacht greift um sich, und plötzlich scheint die Welt aus lauter selbstgemachten Dingen zu bestehen.

Das 19. Jahrhundert ist beseelt von dieser Herrschaftsphantasie; das 20. Jahrhundert wird eine Zeit der Ernüchterung, während das 21. Jahrhundert mit den Folgen - etwa den Unweltschäden - solcher Hybris zu kämpfen hat. Die Literatur aber hat den Mentalitätswandel des Menschen früh erspürt und früh in Geschichten bewahrt. Das 19. Jahrhundert wird die Zeit literarischer Frühaufklärung. Drei große Werke stehen wie laute Kassandrarufe zusammen, die man kaum in Verbindung stellen würde. Das ist neben Kiplings "Dschungelbuch": Herman Melvilles "Moby Dick" von 1851 mit dem verhängnisvollen Versuch von Kapitän Ahab, den weißen Wal zu bezwingen; und schließlich Mary Shelleys Roman "Frankenstein", mit dem erstmals ein Klon in die Welt tritt; der Mensch wird Schöpfer seiner selbst.

Das scheint ganz weit weg vom süßen kleinen Mogli zu sein, wie er uns von Disney+ präsentiert wurde und in unseren Köpfen fortan sein putziges Wesen trieb. Doch wer Kipling wieder oder neu liest, wird staunen über die Tiefe aller Figuren. Auch darum ist das neue, alte Dschungelbuch nur sparsam und ausschließlich grafisch bebildert. Keine dieser Ansichten wird sich in unser Gedächtnis einbrennen.

Wohl aber "Moglis Lied", das große Klagelied eines Jungen zwischen Dschungel und Zivilisation, der niemals Wolf sein kann und doch nicht ganz Mensch werden will. Die Zerrissenheit zieht sich mitten durch diesen Helden. Er begreift nicht, wie ihm geschieht, doch er erleidet es: "Diese Zwei kämpfen in mir, wie die Schlangen im Frühling kämpfen, ich bin zwei Moglis, doch das Fell Schir Khans liegt unter meinen Füßen." Mogli ist eine tragische Figur.

Vielleicht konnte diese Geschichte auch nur einer schreiben, der selbst nach Halt und Orientierung suchte; der die Natur liebte und die Wirklichkeit durchschaute, der vom Männlichkeitswahn getrieben war und seinen stark sehbehinderten Sohn in den Ersten Weltkrieg und damit in den Tod trieb. Kipling, der Demokratiehasser und feinsinnige Dichter. Man wird mit ihm nicht so schnell fertig. Auch nicht mit dem Dschungelbuch. Sein 150. Geburtstag hat uns mit der Neuübersetzung eine neue Begegnung geschenkt.

Lothar Schröder

(RP)
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