Bonn Kindheit in der Kanzler-Villa

Bonn · Matthias Brandt (54) ist Schauspieler - und jüngster Sohn des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt. Jetzt legt er seinen ersten Erzählband vor: In "Raumpatrouille" blickt er auf seine Kindheit in Bonn - und einen Vater, der meist mit Wichtigerem beschäftigt war.

Kaum angekommen im Ferienhaus, zieht der kleine Matthias seine Trapper-Ausrüstung an: braune Hose, braunes Hemd mit Fransen, Westernstickerei, dazu Waschbärfell-Mütze, doppelläufiges Korkengewehr, Bogen, Pfeile, Köcher. Derart umfänglich ausgestattet, kann er ins Gelände laufen, Abenteuer fantasieren, seinen Tagträumen nachhängen, ein anderer sein.

Matthias Brandt hat das zu seinem Beruf gemachen. Er ist einer der gefragtesten Schauspieler der Republik. Einer der großen Minimalisten, die Texte so sprechen, als fielen sie ihnen gerade ein, lässig, echt. Und wenn Kino-Regisseure wie Christian Petzold einen Polizeiruf drehen, machen sie ihn zum Kommissar. Weil Brandt nie piefig wirkt. Vielleicht, weil da eine feine Ironie in seinem Gesicht ist, als schaue er sich selbst beim Spielen zu, als gäbe es da eine letzte, leise-spöttische Distanz zum Schauspielerdasein. Diese Nuance macht ihn unverwechselbar.

Doch Matthias Brandt ist nicht nur als Darsteller bekannt, sondern auch als Sohn. Und wenn er nun in seinem ersten literarischen Versuch in die eigene Kindheit Ende der 60er Jahre abtaucht, vom einsamen Stuhlkippeln auf dem Zimmer, Verkleiden, durchs Gelände streifen erzählt, dann schreibt er über einen Jungen, dessen Vater gerade Bundeskanzler ist.

Es gibt in dieser Kindheit Bonanzaräder und ZDF-Hitparade, Frottee-Schlafanzüge und Zauberkästen, aber eben auch Personenschützer am Gartentor, Kirmesbesuche für die Fotografen, das Gefühl des Andersseins in der Schule - und einen Vater, der mit Wichtigerem beschäftigt ist. Das bedeutet Einsamkeit, aber auch Freiheit. Schon im ersten Satz der Geschichtensammlung klingt das an: keiner da. Brandts Buch handelt vom Alleinesein, aber auch von unverplanter Kindheit in einer zu großen Villa auf dem Venusberg, in der ein Junge noch sich selbst überlassen bleiben durfte.

Man kann Brandts "Raumpatrouille" also als melancholische Miniaturen über die selbstbezügliche, wundersam versponnene, aber auch schmerzliche Zeit einer großbürgerlichen BRD-Kindheit lesen. Brandt erzählt von jugendlichem Scheitern und Scham, von kindlichen Allmachtsfantasien und wie sie an der Wirklichkeit zerschellen. Wie er sich zum Beispiel ausmalt, ein großer Fußballer zu sein, und Mutter Rut beredet, ihm eine Wolfgang-Kleff-Torwartmontur zu kaufen, damit er aussähe wie sein Idol von Borussia Mönchengladbach. Damit die Hülle stimmt. Und wie er dann auf dem Platz versagt, weil die Kappe viel zu groß ist und eigentlich überflüssig. Kläglich ist das und doppelt peinlich in den tollen Klamotten. Brandt schont sich nicht, erzählt von Jähzorn, Feigheit, mangelndem Talent. Doch er verrät das Kind nie, das er einmal war. Er hat Mitgefühl mit dem Jungen vom Venusberg.

Man kann Brandt allerdings auch auf seine Raumpatrouille folgen, um Privates aus dem Kosmos Brandt zu erfahren, Menschliches über Politiker, die Geschichte schrieben. Und man wird fündig. Denn obwohl Willy Brandt in den Kurzgeschichten kaum auftaucht, ist er doch gegenwärtig, als mächtige Abwesenheit, als rauchende Instanz, die verantwortlich ist für die Maßstäbe, die in seinem Haus gelten. Der Sohn hat oft das Gefühl, dem Vater etwas schuldig zu sein, ohne zu ahnen, was. Also verkleidet er sich, wird wenigstens äußerlich der Held, der dem Vater imponieren könnte. Wenn der nur hinsähe.

Brandts Geschichten sind nie reißerisch. Sensationen hat er nicht nötig. Und doch ist dieses Buch eine subtile Abrechnung mit dem Vater. Etwa, wenn er die Einsamkeit der Mutter schildert, deren Erleichterung, wenn es im Sommer zurück in die Heimat geht, ins Ferienhaus in Norwegen. Oder in jener Episode, da der Sohn erzählt, wie die Berater seines Vaters auf die absurde Idee verfallen, Willy Brandt mit dem Rivalen Herbert Wehner auf eine Fahrradtour zu schicken. Der sportliche Ausflug soll die Politiker einander näherbringen, die Freizeitkulisse die beiden aus ihren politischen Rollen lösen. Doch der Bundeskanzler hat so lange nicht auf einem Fahrrad gesessen, dass die Tour im Möhrenbeet endet, ehe sie begonnen hat. Matthias Brandt schildert das wie in Zeitlupe: "Mein Vater stürzte nicht, er kenterte. Es schien, als sei sein Fahrrad leck geschlagen und als führe die dadurch bedingte Schwerpunktveränderung unausweichlich zur Havarie."

Das könnte eine genüsslich erzählte Anekdote sein. Doch es geht in dieser Episode nicht um den Sturz eines Denkmals, es geht um einen kleinen Jungen, der denkt, dass Vati mit ihm radfahren will. Der dann erkennen muss, dass er nur das "Anstandskind" ist für zwei Politiker, die doch dienstlich unterwegs sind. Und es geht um den erwachsenen Sohn, der heute schreiben kann, wie gern er "dem geliebten Vater" die Blamage erspart hätte. Da kann einer im Bundeskanzler, mit dem er aufwuchs, inzwischen den Menschen sehen, der verletzlich war wie alle. Aber wohl verlernt hatte, das zu zeigen.

"Raumpatrouille" ist kein Schlüsselroman, sondern ein wunderbar leicht geschriebener Geschichtenband über eine Kindheit am Rande des politischen Geschehens, ein Aufwachsen in der nach Tabak duftenden Bonner Republik. Tauchte der Vater abends in den Fernseh-Nachrichten auf, hatte diese Figur im dunklen Mantel nichts mit dem Leben eines Jungen zu tun, der nachmittags mit dem Fahrrad ums Haus kurvte und bei den Wachleuten am Eingang ins Wurstbrot beißen durfte. Dieser Junge wäre gern Fußballstar geworden oder Astronaut, um die Eltern stolz zu machen. Dann hat er in der Schauspielerei seine Bestimmung gefunden. Die größte Leistung, die der Sohn eines großen Vaters vollbringen kann.

(dok)
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