Christo und Jeanne-Claude "Keiner braucht unsere Projekte"

Im Juni 1995 verhüllten Christo und Jeanne-Claude das Reichstagsgebäude. Das Ereignis, das Hunderttausende Menschen nach Berlin lockte, wurde in jahrelanger beharrlicher Arbeit vorbereitet. Ein Jubiläumsbesuch in Christos New Yorker Atelier.

Christo und Jeanne-Claude: "Keiner braucht unsere Projekte"
Foto: dpa

Steht man zum ersten Mal unten vor der rostroten Eingangstür, glaubt man, sich geirrt zu haben. Kein Name, kein Klingelschild, nichts, was verrät, dass hier ein berühmter Künstler residiert. Nur eine alte Wechselsprechanlage. Aus der es dann irgendwann krächzt: "Kommen Sie rauf, Sie werden erwartet". Die Treppe ist schmal und steil. Seit 50 Jahren lebt und arbeitet Christo in dem handtuchschmalen Gebäude an der Howard Street in Soho, gewölbte Fenster, vor der Fassade die legendären New Yorker Feuerleitern. Er setzt sich auf ein graues Sofa und redet von Mozart.

Jeanne-Claude, Christos 2009 verstorbene Frau, las einmal in der Studie einer kalifornischen Universität, es beflügele die Intelligenz, Mozart zu hören, die Streichmusik, nicht die Lieder. Seitdem gehören die klassischen Klänge zum Atelier wie Christos zerschlissene Jeans. Auf dem Couchtisch des blütenweiß tapezierten Empfangsraums im zweiten Stock stapeln sich Bücher. Fällt ihm ein Detail nicht ein, will der Hausherr sofort nachschlagen können, und auf Details legt er Wert. Wie hieß noch mal diese Kleinstadt im Harz, in der er Anfang der 90er das Modell des verhüllten Reichstags vorstellte, weil ihm die lokale Bundestagsabgeordnete sagte, er müsse mit ihren Wählern diskutieren, bevor es in Bonn ans Abstimmen gehe? Wernigerode?

Draußen entwickelt sich Soho mit seinen Edelboutiquen, Edelrestaurants und Edelgalerien zum Laufsteg der Schickeria. 1965, als Christo Wladimirow Jawaschew und Jeanne-Claude Denat de Guillebon hier ihren ersten schwülheißen New Yorker Sommer verlebten, öffneten sie mangels Klimaanlage sämtliche Fenster, worauf sich die Wände schwarz färbten vom Ruß der vielen Textilfabriken. Die Industrie ist längst weitergezogen, Christos Fünfstöcker zählt zu den wenigen Konstanten inmitten des Wandels. Und der Protagonist lässt an ein Urgestein denken. Den Computer bedienen seine Neffen, Vladimir und Jonathan, "ich weiß nicht mal, wie man das Ding anschaltet". Dafür könnten die Anekdoten, die er zwei Stunden lang erzählt, ein komplettes Geschichtsbuchkapitel füllen.

Sie handeln von deutschen Politikern, Brandt, Kohl, Schäuble, Carstens, Stücklen, Jenninger. Es hört sich an, als ginge der Mann mit dem weißen Haarkranz ein Kompendium der alten Bundesrepublik durch, 80er Jahre, Hauptschauplatz Bonn. Drei Bundestagspräsidenten in Folge, Karl Carstens, Richard Stücklen und Philip Jenninger, erteilten Christo und Jeanne-Claude eine Absage, als sie beantragten, den Reichstag in Stoff zu packen. Willy Brandt stand eindeutig auf ihrer Seite, einmal besuchte er sie sogar an der Howard Street. Helmut Kohl war ebenso eindeutig dagegen. Der Kanzler begleitete selbst noch die Vollendung des Werks mit den Worten, er ginge lieber auf dem Ku'damm einen Kaffee trinken, als sich den verhüllten Reichstag anzuschauen - "dabei haben wir mitgekriegt, wie er in einem Hubschrauber drüberflog". Und Christo & Jeanne-Claude wurden zu Dauergästen in Bonn: Zwischen 1992 und 1994 verbrachten sie Monate in der Stadt, um in über 300 Abgeordnetenbüros vorzusprechen. "Was wir immer betonten, war, wir zahlen das mit unserem Geld, den Steuerzahler kostet es nichts."

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Am Anfang der Geschichte steht allerdings ein Amerikaner, Michael S. Cullen, Kunsthändler in Westberlin. Er schickte eine Ansichtskarte mit Reichstagsmotiv. Ob das nicht etwas wäre, was sich zu verkleiden lohne. "Dieser Cullen nahm mich beim Wort, denn 1961, zehn Jahre zuvor, hatte ich zu einer Fotomontage stoffumhüllter öffentlicher Gebäude erklärt, dass Parlamente und Gefängnisse für mich die einzigen wahrhaft öffentlichen Gebäude sind." Gewiss, der Viermächtestatus Berlins, der Reichstag direkt an der Mauer, die Symbolik der Teilung Europas, das habe ihn als Bulgaren gereizt. Was folgte, war - 23 Jahre lang - das Bohren extrem dicker Bretter.

Das ewige Warten, die Unsicherheit, für ihn sei es immer der Normalzustand gewesen, sagt Christo. "Niemand braucht unsere Projekte, sie sind völlig irrational, total überflüssig. Niemand hat auf sie gewartet." Im Übrigen habe er es stets abgelehnt, Auftragsarbeiten zu liefern. Er sei ja nicht aus Bulgarien geflohen, über Prag, wo er sich 1957 in einem nach Wien fahrenden Güterzug versteckte, um sich im Westen die künstlerische Freiheit einzäunen zu lassen. Und da er nie wissen konnte, wann eine Regierung, ein Parlament, ein Bürgermeister grünes Licht geben würde, ging er simultan an, was er in Stoff packen wollte. Wie ein Schachgroßmeister, der an mehreren Brettern zugleich spielt.

Stationen im Leben von Jeanne-Claude und Christo
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Ob er den New Yorker Central Park mit Tuch schmücken dürfe, hatte er 1979 zum ersten Mal angefragt. Es vergingen 26 Jahre, bevor die safranfarbenen Fahnen wehen konnten. Die Idee, Stoffbahnen über den Arkansas River in Colorado zu spannen, wurde 1992 geboren, als Jeanne-Claude die Langeweile der Beamtenstadt Bonn für eine Weile gegen das Drama grandioser Natur eintauschen wollte und sie in die Rocky Mountains fuhren. Bis heute streiten die Anwälte, ohne dass am Arkansas-Fluss etwas geschah. In Japan, wo man blaue Schirme in ein Tal stellte, um in Kalifornien parallel dazu mit gelben Schirmen dasselbe zu tun, lernte er Demut: "Jeanne-Claude hat immer gesagt, wir werden hier sechstausend Tassen grünen Tee trinken müssen, ehe wir am Ziel sind". 469 Reisbauern waren zu überzeugen, der jüngste 64, der älteste über 90, keiner des Englischen mächtig. Mit der Zeit lernte Christo auch, dass man manchmal nur warten muss, bis das Personal wechselt. In New York drehte sich der Wind, als der wendige Geschäftsmann Michael Bloomberg ins Rathaus gewählt wurde. In Deutschland, als Rita Süssmuth den Vorsitz des Bundestages übernahm.

"Jenningers Absage hat uns furchtbar deprimiert", erinnert sich der 79-Jährige. Dann fiel die Mauer, zwei Jahre später erreichte ihn ein aufmunternder Brief. Sie wolle helfen, seinen Traum zu erfüllen. Versprechen könne sie nichts, gleichwohl hoffe sie, dass man es gemeinsam schaffe, schrieb Süssmuth. Die Gegner beriefen sich auf die Würde des Hauses, die man nicht opfern werde für so einen Unsinn. Als das Parlament debattierte, begründete Wolfgang Schäuble sein Nein damit, dass man sorgsam umgehen müsse mit dem "steinernen Zeugnis deutschen Schicksals". Die Warnung klang derart übertrieben, zumal bei einem Gebäude, das damals kaum genutzt wurde, dass Christo sie noch heute mit einem Schmunzeln kommentiert. "Schäubles Rede war das Beste, was uns passieren konnte, denn ganz ehrlich, mit einem Sieg hatten wir nicht gerechnet." Am Abend vor dem Votum am 25. Februar 1994 wettete Süssmuth fünf Flaschen Champagner auf eine Niederlage der Pro-Christo-Fraktion, was sie freudestrahlend beichtete, nachdem sie die Wette verloren hatte. Mit 292 gegen 223 Stimmen bei neun Enthaltungen und einer ungültigen Stimme billigte der Bundestag die Verhüllung.

Als im Juni 1995 die Stoffbahnen tatsächlich hingen, ließen sich Christo und Jeanne-Claude von 17 Bodyguards bewachen, und sie trugen auch kugelsichere Westen. "Jeanne-Claude bestand sogar darauf, dass wir vorher Blut spenden, damit es da ist, falls etwas passiert."

Und nun? Vergangenes Jahr, da nahm er in Stuttgart den Theodor-Heuss-Preis entgegen, erzählte Christo seinem Neffen Vladimir im Auto, er sei bald achtzig, er wisse nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibe, also denke er an eine Aktion, bei der man nicht eine Ewigkeit warten müsse. Etwas mit ruhigem Wasser, an einem See. In Italien, am Fuß der Alpen, wurden sie fündig, das Ergebnis der Gedankenspiele lässt sich auf großformatigen Fotomontagen an der Howard Street begutachten. 16 Meter breite Stege in leuchtendem Orange sollen nächsten Sommer vom Ufer des Lago d'Iseo auf eine Insel namens Monte Isola führen, gut drei Kilometer lang, der Stoff über schwimmende Polyäthylenwürfel gelegt. "Man wird die Wellen unter den Füßen spüren", sagt der Meister und schwärmt von der Flexibilität südländischer Bürokratie, die in Rekordzeit ihren Segen gab. Für unsere Feinde wenden wir das Recht an, hat er in Italien gehört, für unsere Freunde interpretieren wie es.

(RP)
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