Trier In Zürich wird der See zum Bilderrahmen

Bei der Wanderbiennale Manifesta wird die ganze Stadt zum Kunst-Raum und entlässt die teilnehmenden Künstler in die Berufswelt der Eidgenossen.

Was Sie schon immer über Arbeit wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten, beantwortet diese Wanderbiennale ausgiebig, zugleich aber auch etwas vorbei an der aktuellen Dringlichkeit des Themas. In Zeiten anschwellender Neid- und Angstdebatten übt man sich in Zürich seltsam in Zurückhaltung. Werke, die sich dieses Aspekts explizit politisch annehmen, findet man in der elften Ausgabe der Manifesta nicht. Dafür aber läuft man bereits im Stadtraum direkt auf die Kunst auf.

Das Schaufenster des Bekleidungsgeschäfts "Bovet", spezialisiert auf männliche Übergrößen, lockt mit einem ungewöhnlichen Anblick. Nicht nur, dass die Puppen mit ihren Rundungen nicht gerade dem gängigen Schönheitsideal entsprechen. Sie ähneln frappierend Berühmtheiten wie Gérard Depardieu oder Luciano Pavarotti.

Etwas ist faul im Nachbarland Schweiz, denkt man sich, und tappt direkt in die Falle, die der aus Prag stammende Künstler Jan Vágner aufgestellt hat. In der Hauptausstellung verliert die Fortsetzung seiner Installation etwas an Wirkung, aber sie bleibt ein gelungenes Beispiel für den Anspruch des Kurators Christian Jankowski, die Kunst aus ihrer Komfortzone mitten hinein ins Leben zu schubsen.

Seit 1996 nomadisiert die Manifesta durch Europa. Nun macht sie unter dem Motto "What People Do For Money" Station in Zürich. Dass sie diesmal das Konzept dem in Berlin lebenden Aktionskünstler übertragen hat, war ein Risiko, das sich aber auf Schritt und Tritt sichtbar amortisiert hat. Denn auch für den Besucher gilt es, aktiv zu werden und in die Berufswelt der reichen Finanzmetropole einzutauchen.

Das Thema Arbeit zieht sich wie ein roter Faden durch Jankowskis Werk. Erkundet hat er sie bereits beim Teleshopping und in der Institution Kunstmuseum. Warum also nicht die historischen Zünfte ins Visier nehmen?

Dieser traditionellen Handwerker-Verbände dienten Jankowski als Ausgangspunkt für seine 30 Kunstprojekte, die sogenannten "Joint Ventures". Lokale Gastgeber treffen dabei auf internationale Künstler, um gemeinsam ein Werk auf die Beine zu stellen. Das Ergebnis ist teilweise auch an den Hauptaustragungsorten Löwenbräukunst-Areal und Helmhaus zu erleben. Es muss also niemand seine Laufbereitschaft überstrapazieren, es sei denn, er möchte das Gesamtpaket in allen Facetten zu Gesicht bekommen, inklusive Arbeitsort des Berufsvertreters und den Film über die Kooperation. Zu sehen sind diese auf dem großen Holzfloß auf dem Zürichsee, dem zum Entspannen einladenden "Pavillon of Reflections" aus Bad, Bar und Kino.

Das Eintauchen in ein fremdes Metier sollte man sich dennoch möglichst nicht entgehen lassen. Wann bekommt man schließlich einen unverbindlichen Einlass in eine Uhrmacherwerkstatt an der luxuriösen Bahnhofstraße oder eine Zahnarztpraxis, in der die Patienten vor der Behandlung auf die Schock-Zahn-Bilder des norwegischen Künstlers Torbjørn Rødland starren? Gleich zwei Krankenhäuser buhlen unter den "Satelliten" um die Aufmerksamkeit. Gewinner ist eindeutig die Hirslanden-Klinik, in die sich Michel Houellebecq zum Körper-Check-up begeben hatte.

Am Empfang stapeln sich auf einer Palette Kopien seiner Blutwerte, Herz-EKGs und CT-Bilder der Organe als Beweisstücke eines kostspieligen Kults um die Gesundheit, an der im Fall des Skandal-Autors schon länger gerüchteweise gezweifelt wurde. Und siehe da, bis auf erhöhte Cholesterin-Werte ist der optisch im Rafftempo verfallende Franzose, der sich neuerdings auch als bildender Künstler versucht, erstaunlich gesund. Da soll noch einer sagen, zeitgenössische Kunst wäre nutzlos.

Im Helmhaus kommt sein durchleuchteter Kopf in eindrücklichen Scan-Vanitas-Meditationen zur Geltung. Die Berufserkundung im Selbstversuch wirkt beinahe wie eine exhibitionistische Mutprobe. Selbst der heitere Provokateur Maurizio Cattelan kann da mit seinem über den Zürichsee schwebenden Rollstuhl, den die querschnittsgelähmte Paralympics-Weltmeisterin Edith Wolf-Hunkeler auf wundersame Weise bespielt, nicht mithalten. Jesus-Zitat hin oder her, schon wegen der niedrigen Aufführungsfrequenz der Performance bleibt sie eher unsichtbar.

Courage sollte man beim Betreten der Kantonspolizei mitbringen. Der eine oder andere Beamte spielt dort in einem Buñuel-Remake mit. Das zum "Zunfthaus der Künstler" umbenannte ehemalige Cabaret Voltaire fordert gar eine Performance-Einlage ein. Sonst bleiben dem Besucher die Türen verschlossen. Oder man meidet gleich das erste Stockwerk des Löwenbräukunst-Areals, in das Mike Bouchet 80 Tonnen bestialisch stinkenden Klärschlamms, eine Tagesproduktion der Stadt Zürich, in riesigen Trockenquadern installiert hat.

Jenseits solcher ironischen "Wohlfühl"-Episoden warten die zwei großen Ausstellungen mit einer Fülle an abwechslungsreichen Positionen auf, auch zum Komplex des zeitgenössischen Künstlers und seiner mitunter kuriosen Nebeneinnahmen. An den Big Playern des Kunstsystems arbeitet sich etwa die Amerikanerin Megan Marlett ab, indem sie global einflussreiche Kritiker und Kuratoren als grinsende Karnevals-Pappköpfe porträtiert. Bei anderen geht es um die Eigenwerbung oder die über allem schwebende Absturzgefahr.Um das Bohème-Prekariat macht Jankowski dann lieber doch einen unkonkreten Bogen. Kunst ist für ihn immer noch vor allem eine Gegenwelt. Seine Auswahl soll glücklich machen, wie er in Interviews betonte. Wer sich Tristesse wünscht, muss nur die Ärmel hochkrempeln und arbeiten gehen. Etwa in dem chronisch kriselnden Palermo, dem Austragungsort der Manifesta 2018.

Info What people do for money. Manifesta 11, Löwenbräukunst, Helmhaus und diverse weitere Orte in Zürich. Bis 18.9., Katalog: 49 CHF., Kurzführer: 10 CHF. m11.manifesta.org/de

(RP)
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