Gastbeitrag Ulla Lenze "Ich rufe Istanbul an"

Auch eine Beschwörung: Der Putsch lässt die in Mönchengladbach geborene Autorin wieder intensiv an das Leben in Istanbul denken.Ihr jüngster Roman - "Die endlose Stadt" - wäre ohne ein Leben in der türkischen Metropole undenkbar gewesen.

In der Nacht, in der von einem Militärputsch in der Türkei die Rede ist, klebe ich vor dem TV, wechsle nervös zwischen Facebook und Twitter, und schreibe Textnachrichten an meine türkischen Freunde in Istanbul: "Seid ihr in Sicherheit? Was ist passiert?" Ich bekomme keine Antwort. Das Bild eines Panzers auf der Bosporus-Brücke wird eingeblendet. Soldaten mit verängstigten Gesichtern. Die Medien berichten zurückhaltend, niemand wagt eine Einschätzung. Das ist selten. Ich rufe in Istanbul an. Niemand geht ans Telefon.

Auf Facebook erntet der türkische Präsident, der sich über ein Smartphone in der Hand einer Moderatorin übertragen lässt, Spott und Schadenfreude - der Imperator in diesem lächerlichen kleinen Kästchen. Aber auch das ist verhalten. Niemand wagt, sich zu freuen - möglicherweise zu früh zu freuen.

Erst am nächsten Morgen, der Putsch gilt inzwischen als gescheitert, werden meine Textnachrichten durch das zweite, blaugefärbte Häckchen komplettiert, die Lesebestätigung - es ist diesmal eine Lebensbestätigung. Eine türkische Freundin schreibt, sie sei, als sie Gewehrfeuer und Explosionen hörten, mit ihrer Familie in den Keller geflohen. "Wir glaubten, es sei wieder ein Terror-Anschlag." Dort im Keller gab es keinen Empfang.

Gegen Mittag meldet sich ein Freund, der in der Nähe des Taksimplatzes einen Lebensmittelladen betreibt. Er habe die Nacht über kaum aufschauen können, ständig strömten Menschen in den Laden, legten Brot auf die Theke, Käse, Wasser, Kekse, Schokolade. Hamsterkäufe. Ich weiß nicht, ob der Freund ein Erdogan-Anhänger oder -Gegner ist. Ich formuliere meine Fragen daher vorsichtig und ich versuche zwischen den Zeilen zu lesen. "Ich habe große Angst. Wir alle haben große Angst", schreibt er. Dass ein Militärputsch keine Lösung sein kann, da ist die Welt sich am nächsten Tag einig. Was ist aus Istanbul geworden? Ich war vier Jahre nicht mehr dort. Seit einiger Zeit schaue ich nach Flügen, aber dann passiert wieder etwas, ein Anschlag, ein religiös motivierter Übergriff oder Demonstrationen, die in Gewalt enden. Vor sieben Jahren lebte ich mehrere Monate in Istanbul. Ohne diese überwältigende Stadterfahrung wäre mein Roman "Die endlose Stadt" nicht entstanden. Istanbul galt als neuer Hot Spot der Kunstszene, NRW schickte seine Autoren und Künstler hin - auch mich. Die schon dort waren, schickten euphorische Nachrichten nach Hause: Musst du dir selber anschauen! Unbeschreiblich! Ich kam im September an. Die Stadt leuchtete im Spätsommerlicht und lag in schönen Bögen auf dem türkisgrünen Wasser auf. Von unserer Gasse gingen kleinere Gassen ab, mit lichtrieselnden Dächern aus Wildem Wein, manchmal auch aus aufgehängter Wäsche. Leere Joghurtbecher wurden hier und da aufgestellt und mit Wasser gefüllt - für die unzähligen prächtigen Straßenkatzen, die selbstbewusst durch die Geschäfte glitten und sich den Nacken kraulen ließen. Die alten europäischen Stadthäuser im Jugendstil rührten etwas in mir an, wie eine Heimat unerwartet in der Fremde. Wir fuhren mit der Fähre zwischen Asien und Europa hin und her, im Bewusstsein, etwas Bedeutsames zu tun, das aber ohne Anstrengung möglich war. Und wo nun war dieses Europa, wo dieses Asien? Wo genau begann es? Vielleicht doch nur in uns? Wir lasen die türkischen Dichter Nazim Hikmet und Orhan Veli. Wir gingen zu Konzerten, zu Ausstellungen, auf Partys. Es herrschte durch alle Schichten hindurch eine weltoffene Stimmung, die nicht aufgesetzt und von nirgends kopiert wirkte. Das Nebeneinander von Tradition und Lifestyle war eine Selbstverständlichkeit - der Korb, den der Straßenhändler mit Ware füllte und der dann schaukelnd die Hausmauer hochgezogen wurde, der regelmäßige Muezzin-Ruf, die Macbooks in den Straßencafés, oder im Fenster das Designer-Sexspielzeug neben dem New York Cheese Cake. Wenn man sich vor unserem Haus auf die Stufen setzte, kam der Nachbar und reichte einem ein Kissen. Nie vergesse ich die würdevolle kleine Verneigung des Supermarkthändlers, wenn er mir die gekaufte Ware reichte, und sei es eine Tube Zahnpasta.

"Die Stadt ist nicht fertig und darum kannst du sie weiterdenken", erklärte mir unser Vermieter, der auch Architekt ist, "darum ist sie für Künstler so anziehend". Viele kamen. Die Stadt wurde immer weiter gentrifiziert, die Mieten stiegen. Die Gezi-Park-Proteste 2013 richteten sich kritisch gegen diese Tendenz, Kommerz statt Kultur, und wurden zum Symbol zivilgesellschaftlichen Widerstands. Seit dem gescheiterten Putsch sind bereits mehrere tausend Richter und Militärangehörige entlassen worden. Präsident Erdogan kann sich die Wiedereinführung der Todesstrafe vorstellen. Der türkische Freund schreibt mir heute: "Wir sind zur Normalität zurückgekehrt. Wir arbeiten ganz normal." Ich weiß, dass er sich genau das am meisten wünscht.

(RP)
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