Macondo "Hundert Jahre Einsamkeit" neu übersetzt

Macondo · Vor 50 Jahren erschien das Werk von Gabriel García Márquez; 30 Millionen mal wurde es verkauft.

Wozu um alles in der Welt sind neue Übersetzungen großer Bücher gut? Waren die alten denn schlecht oder einfach nur alt? Zumal manche Überarbeitungen oft nur erkennbar werden, wenn beide Ausgaben nebeneinander liegen und feinsinnig verglichen werden. Und wenn die erste Entdeckung darauf beschränkt bleibt, dass es jetzt Pfahlrohr statt Bambus heißt.

So geschehen in der deutschen Neuübersetzung von "Hundert Jahre Einsamkeit", an die sich Dagmar Ploetz gemacht hat und die am 9. Juni erscheinen wird. Natürlich ist ein solches Urteil ungerecht; zudem erschießt sich der Wert einer neuen Übertragung selten im Abgleich der Vokabeln. Vielmehr ist es der Sound, der sich über die Handlung legt und den Leser an die Hand nimmt. Und da wird es bei der Neuausgabe von "Hundert Jahre Einsamkeit" wirklich spannend: Ploetz erzählt das große Epos von Gabriel García Márquez (1927-2014) über die kolumbianische Familie Buendia weit lakonischer als ihr Vorgänger Curt Meyer-Clason. Dieser hatte uns das Buch in einer Farbigkeit präsentiert, wie wir uns den magischen Realismus Lateinamerikas halt so vorstellten. Dagmar Ploetz nimmt ein wenig von dieser Würze weg. Der Satzbau ist manchmal etwas kantiger, die Sprachmelodie nüchterner. In Zweifelsfällen hat sie nach eigenen Worten eher auf Knappheit denn auf Ausmalung gesetzt. Das ist zunächst mutig und nicht sonderlich marktkonform. Doch Ploetz ist eine Expertin lateinamerikanischer Literatur: Neben Büchern von Gabriel García Márquez hat sie unter anderem Allende und Vargas Llosa übersetzt. Sie weiß, was sie macht und erspürt das Wesen des Originals nicht nur durch die Sprache, sondern auch im Kontext anderer Bücher und seiner Zeit.

So scheinen wir mit dieser Ausgabe der Urfassung wieder ein Stück näher zu kommen - und das 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung. Dieses Buch hatte Gabriel García Márquez zur Stimme Lateinamerikas gemacht, zum späteren Nobelpreisträger und Vorreiter einer Literatur, die unsere Welt so phantastisch und archaisch erzählt, dass durch die Mythen auch unser Leben und unsere Gegenwart hindurchschimmert. Wie sonst ist es erklärlich, dass "Hundert Jahre Einsamkeit" bis heute in 37 Sprachen übersetzt und weit über 30 Millionen Mal verkauft worden ist.

Ein ganz neues Buch halten wir auch mit der Neuübersetzung nicht in den Händen. Also kein Vergleich zu Salingers "Fänger im Roggen", der erst in der Übertragung von Eike Schönfeld die Wucht jugendlichen Aufbegehrens bekam und die Uralt-Übersetzung von Heinrich Böll biedermeierlich wirken ließ.

Dagmar Ploetz hat sich ihre Unbefangenheit bewahrt, als sei sie die erste Übersetzerin. Erst nach der eigenen Arbeit hat sie Meyer-Clasons Werk gelesen. Und sie war souverän genug, sich in Zweifelsfällen auch beim Vorgänger zu bedienen. Ploetz hat "Hundert Jahre Einsamkeit" 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung zu neuem, überraschenden Leben erweckt. Mehr kann eine Übersetzerin nicht leisten.

(los)
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