Gilgamesh-Epos im Theaterzelt Helden wie wir

Düsseldorf · Auftakt in Düsseldorf: Wilfried Schulz stellt das 5000 Jahre alte Gilgamesh-Epos an den Beginn seiner Intendanz am Schauspielhaus. Roger Vontobel findet darin Figuren aus der Gegenwart.

Lehmverkrustet, schlammbeschmiert, verschwitzt, verstört, fast nackt steht der Held am Ende da und schaut auf sein Reich, Uruk, die erste Megacity der Menschheit mit imposanter Stadtmauer. Gilgamesh, der König, der Gigant, ließ sie erbauen, als Schutzwall, als Umfriedung, als Zeichen seiner Stärke. Doch nun ist es Zeit, sich hinauszuwagen. Und so hebt sich die Außenhaut des Theaterzelts an der Düsseldorfer Königsallee. Das Provisorium, in dem Wilfried Schulz seine erste Spielzeit als Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses eröffnen muss, gibt den Blick frei auf Passanten, Flaneure, teure Autos, die auf der Prachtstraße ihre Runden drehen. Großstadtlichter. Motorenheulen. Urbaner Lärm. Und Gilgamesh, der besudelte, geläuterte Held, läuft hinaus in die moderne Stadt. Ruft den irritierten Bürgern zu, dass sie die Fundamente prüfen sollen, das Ziegelwerk, auf das ihr Dasein gebaut ist. Da ist ein 5000 Jahre alter Stoff in der Gegenwart angekommen. Und ein Theater hat sich der Stadt geöffnet, die so lange mit ihrem Schauspielhaus gefremdelt hat. Ein berührender Moment ist das für Düsseldorf.

Der neue Intendant, der aus Dresden an den Rhein gekommen ist, hatte in den vergangenen Monaten Durchhaltekraft beweisen müssen. Scheibchenweise musste er erfahren, dass die großen Bauvorhaben in der Düsseldorfer Innenstadt die Bespielung seines Stammhauses am Gründgens-Platz für lange Zeit unmöglich machen. Schulz hat diesen Rückschlägen eine Chance abgerungen. Im Herzen der Stadt ließ er ein Zelt errichten, ein dünnhäutiges Theater, in dem die Zuschauer zusammenrücken müssen. Und dann hat er seinen neuen Hausregisseur Roger Vontobel ganz von vorn beginnen lassen: Mit der ältesten Erzählungen der Menschheit, in der schon alles enthalten ist. Das Gilgamesh-Epos berichtet von der Wandlung eines Königs vom Tyrannen zum menschlichen Stadtoberhaupt. Gilgamesh ist besessen davon, sich einen Namen zu machen, seine körperliche Überlegenheit zu beweisen durch Gewalt. Doch er gewinnt einen Freund, einen wahren Gefährten und muss erleben, wie der stirbt. Trauer lähmt ihn, das Wissen um den Tod zerstört seine stolze Selbstgewissheit, lehrt ihn, von sich selbst abzusehen - und macht ihn zum humanen Herrscher.

Reicher Stoff. Vontobel will ihm alles abringen. Und so lässt er gewaltige Sandberge in die Manege kippen, lässt die Schauspieler darin graben, kämpfen, sich ganz und gar verausgaben. Das ist physisch, kraftvoll, packend, wenn diese Bilder auch nicht neu sind. Dazu arbeitet er mit dem Düsseldorfer Choreografen Takao Baba zusammen, der für die Schauspieler und zwei Tänzer naiv-plakative, aber wirkungsvolle Kampfkunstchoreografien erdacht hat und auch selbst in den Lehm steigt.

Er ist das tänzerische zweite Ich, das ständig anwesende Action-Double für André Kaczmarczyk, der den Enkidu spielt, den Gefährten von Gilgamesh. Zwar erschließt sich diese Doppelbesetzung aus dem Stück selbst nicht. Wie zu hören, entstand die Idee aufgrund einer Fußverletzung des Schauspielers, erschien den Künstlern dann zwingend. Jedenfalls finden beide zu erstaunlicher Symbiose, werden ein Sprecher-Tänzer-Körper. Ohne Verstärkung hätte Kaczmarczyks Enkidu allerdings auch zu wenig Wucht gehabt.

Vontobel zieht alle Register, um das Archaische des Stoffes in Szene zu setzen, lässt Darsteller chorisch sprechen, Lehmmasken im Gesicht, vereint sie zu vielköpfigen Fabelwesen mit blutroten Zungen, lässt es stauben und spritzen in der Manege. Zugleich reizt ihn das erstaunlich Moderne der Figuren, ihre psychische Verfasstheit; und er hat einen Hauptdarsteller, der zwischen den Zeiten wandeln kann. Bemerkenswert, wie Christian Erdmann mit ironischen Brechungen arbeitet, ohne seine Figur zu verraten, wie er Gilgamesh als modernen Zyniker spielt, als arroganten, selbstverliebten Macho, der auf den Rat der Ältesten und die Macht der Götter pfeift. Und ihn dann wieder zum sumerischen Helden macht, dem die Angst vor dem Schicksal in die Glieder fährt, der im dunklen Wald sitzt und bibbert. Da überlagern sich die Jahrtausende. Da wird sinnfällig, dass den Menschen letztlich doch immer nur das eine antreibt: die Angst vor dem Tod; die Angst vor dem Vergessenwerden.

Die Frauen in diesem Stück scheinen über all dem zu stehen. Michaela Steiger spielt Gilgameshs Mutter Ninsun als walkürenhafte Königin der Nacht, was sich allerdings nicht wirklich in die Inszenierung fügt. Minna Wündrich gibt eindringlich die Hure Shamhat ohne falsche Empfindsamkeit. Und wenn Florian Lange als Waldhüter Humbaba um sein Leben fleht, wenn er bittet und schmeichelt, dann freut man sich auf künftige Begegnungen mit diesem Ensemble, das voller Spielfreude ist und an diesem Abend in keinem Moment die Spannung verliert.

Da fällt kaum ins Gewicht, dass Vontobel nicht frei von Posen inszeniert, dass es ihm manchmal um den coolen Sound zu gehen scheint, um Gefälligkeit für ein junges, urbanes Publikum. So lässt er den Abend von einem Rock-Trio untermalen, als habe er Angst vor Brüchen, vor Leerstellen, vor ein bisschen Sprödigkeit. Dabei sind Text und Spiel doch stark genug, da braucht es keinen Dauer-Soundtrack, keine Schläge auf die Trommel, wenn es im Text gewittert.

Trotzdem gelingt in Düsseldorf ein starker Auftakt mit einem vorsintflutlichen Text, der der Gegenwart viel zu sagen hat. Vontobel hat ihn ausgegraben, nicht fein durchdrungen. Dafür gab es langen, warmherzigen Applaus im Theaterzelt an der Kö. Das Schauspielhaus hat die Planen hochgezogen, hat lebendige Kunst freigesetzt mitten in der Stadt. Das kann nun wirken.

(dok)
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