Glaube in Glas

Kirchenfenster haben Künstler schon immer herausgefordert. Wie modern diese vor allem im Rheinland sind, belegt eine imposante, neue Dokumentation.

Viel erkennt man ja nicht. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Bis wir uns auf das Farbenspiel einlassen. Und ein Spiel ist es zunächst wirklich: wie Formen tanzen auf den Glasfenstern, sich im Gelb wiegen, im Rot emporzüngeln. Und doch will man am Ende etwas begreifen, verstehen lernen. Wir können gar nicht anders, als uns einen Sinn zusammenzureimen. Wir wollen Zugang finden zu etwas, wozu es keinen leichten Zugang gibt: dem Mysterium des Glaubens.

Die Fenster des südkoreanischen Dominikanerpaters Kim En Joong in der Kathedrale St. Paul zu Lüttich sind ein Kunst- und Glaubenserlebnis. Und sie lassen plötzlich Gerhard Richters farbenfrohe Mosaike im Kölner Dom nicht mehr ganz so revolutionär erscheinen. Bei Kim En Joong fließt vieles ineinander ohne strukturierende Bleiruten. Als gäbe es kein Ende und keinen Anfang. Allein die Eisenarmierungen geben Grenzen vor, die der Architektur geschuldet sind. Das geistige Umfeld macht so auf sich aufmerksam: Es sind die Kirchen, die das Werk ermöglichen und in deren Bezug es immer steht.

Der Dominikanerpater folgt keinem Realismus. Er lädt ein zur Meditation. Doch bei ihm ist das Mysterium nichts Mysteriöses, sondern eine tiefe Erfahrung. Dieser Glaube in Glas ist wundersam spannungsreich - auch im Kontrast zu den alten Renaissancefenstern gleich daneben.

Die Glasmalerei ist immer eine Art Empfangskomitee in unseren Kirchen. Sie bestimmen das Licht des Andachtsraumes; sie reagieren auf Tageszeiten und dienen als Übergang vom profanen zum sakralen Raum: Denn sie spiegeln die Welt nach innen und verkünden ihre Botschaft nach außen. Und es ist immer nur das Tageslicht, das Glasbilder zum Leben erweckt. Auch das macht einen Teil ihrer Faszination aus.

Natürlich ist die Moderne mit ihrem Willen zur Abstraktion auch an der Gestaltung von Kirchenfenstern nicht vorübergegangen. Doch wie intensiv, vielfältig und künstlerisch atemberaubend sich dies vor allem im 20. Jahrhundert ereignete, belegt jetzt eine von Iris Nestler herausgegebene, prachtvolle Dokumentation. Darin richten Kunsthistoriker ihren Blick auf die Meisterwerke der Glasmalerei, und dass sie sich besonders im Rheinland umschauten, hat nichts mit Begrenzung zu tun. Denn es sind die rheinischen Gebiete mitsamt der angrenzenden Länder wie Belgien und den Niederlanden, in denen die Glasmalerei in den zurückliegenden sechs Jahrzehnten zu besonderer Blüte kam. Der Grund ist auch ein historischer: Durch immense Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurden Neubauten erforderlich. Und die Menschen nutzten die Chance, daraus mehr als Nachbauten zu machen. Aus den auch moralischen Ruinen sollte Neues entstehen, sollte der alte Glaube in neuer Gestalt sichtbar werden. Es war die Glasmalerei, die zu neuen Sichtweisen ermutigte und zu neuen Techniken ermunterte.

Kirchenfenster gehören vielleicht zu den letzten großen Zeugnissen sakraler Kunst des 20. Jahrhunderts. Das Spannende an ihnen ist, dass sie nicht mehr im vermeintlichen Maßstab von eins zu eins abbilden, was uns biblische Geschichten schildern. Moderne Kunst verlässt die Oberfläche. Nimmt Abschied vom Statischen und nur Ornamentalen. Sie versucht, tiefer ins Geheimnis der Erzählung einzudringen. Sie legt das Korsett des Gegenständlichen ab und gewinnt so eine doppelte Freiheit: die des Künstlers, der seine Deutung und seine Inspiration zur Richtschnur macht, sowie die des Betrachters, der das Werk mit seinen eigenen Lebens- und Glaubenserfahrungen konfrontiert. So entsteht ein spiritueller Raum, der nicht immer frei von Auseinandersetzung sein kann. Insbesondere dann, wenn vermeintliche Deutungshoheiten aufeinandertreffen, wie einst beim Richter-Fenster im Kölner Dom, das der damalige Erzbischof, Joachim Kardinal Meisner (1933-2017), für deplatziert hielt.

Derart unterschiedliche Bewertungen waren unmittelbar nach dem Krieg eher die Regel. Etliche Künstler fertigten mit Blick auf den Auftraggeber daher oft zwei Varianten ihrer Kirchenfenster an: eine geometrische und eine figürlich-expressive. In diesem ungewöhnlichen Umfeld entwickelten sich ungewöhnliche Vertriebswege. Denn es waren die Werkstätten der Kirchen, die das Geschäft der Galerien übernahmen.

Das hört sich reibungsloser an, als es in Wirklichkeit bis heute ist. Da wurden Aufträge gestoppt und zornige Debatten geführt - wie beim Fensterstreit von Heilig Geist in Heidelberg und den Querelen um die Fenster im Bamberger Dom. Doch wurde unterm Strich das meiste eben doch vollendet - zum Glück. Am berühmtesten vielleicht sind die Kirchenfenster Marc Chagalls in St. Stefan zu Mainz, heute längst ein Pilgerort für Kunstliebhaber. In die Reihe großer Zeugnisse gehören die Chorfenster in der Koblenzer Liebfrauenkirche von Hans Gottfried von Stockhausen, die Arbeiten von Emil Kiess in der Mannheimer Trinitätskirche und Markus Lüpertz' Darstellung vom Heiligen Martin in der Kapelle des Koblenzer Stiftsklinikums. So viele wären noch zu nennen; gerecht würde man dem Schaffen der Künstler dennoch nicht.

Das Aufregende in der sakralen Glaskunst ist der permanente Wandel, dem alle Beteiligten unterworfen sind: Die Künstler entwickeln sich und ihre Anschauungen weiter, der Glaube wird in immer neuen Formen vermittelt, und die Gesellschaft reagiert auf Kunst und Kirche auf ihre Weise. Diesem Umfeld wohnte eine Dynamik inne, die die Glasmalerei zu einem vielleicht stillen, aber doch bedeutsamen Nucleus unserer ästhetischen Erfahrung macht. Glasmalerei wird immer mehr zur Herausforderung einer Institution, die im Wandel von Zeit und Glaube ihren eigenen, dabei zeitgemäßen Weg finden muss. Die Düsseldorfer Kunsthistorikerin und Herausgeberin Iris Nestler findet dafür deutliche Worte: "Der Kampf um die Freiheit der Kunst im Sakralraum, der Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter in den Religionen ist aktueller denn je. Religion, egal welche, hinkt der gesellschaftlichen Entwicklung des 21. Jahrhunderts hinterher." Was sie befürchtet, ist "ein Werteverfall kultureller Schätze aus religiösem Zusammenhang".

Bei aller Schönheit kündet die moderne Glaskunst eben auch von diesem großen Widerstreit. Geht dieser verloren, droht auch der Glaube in Glas sein Ende zu finden. Einen Unglauben in Glas aber gibt es nicht. Das wäre dann nur noch ein Scherbenhaufen.

(los)
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