"Eine kurze Geschichte der Gegenwart" Geschichtswerk für das 21. Jahrhundert

Der Historiker Andreas Rödder hat ein bemerkenswertes Buch über die Umwälzungen der jüngsten Zeit geschrieben.

Selten gibt es eine Neuerscheinung, die der Rezensent nahezu uneingeschränkt lobt. Andreas Rödder gelingt dies mit seiner Betrachtung "21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart". Gerade nach den Anschlägen von Paris sollte darauf zugegriffen werden. Denn es sieht so aus, als würden uns die Probleme der Gegenwart in Zukunft verstärkt beschäftigen.

Der Mainzer Geschichtsprofessor ist einem größeren Leserkreis spätestens seit seiner gelungenen Geschichte der Wiedervereinigung bekannt, die 2009 erschien. Jetzt hat er sich darangemacht, "einen Crashkurs durch die Grundprobleme unserer Zeit" und "die aktuellen Lösungsstrategien mit ihren erkennbaren Vor- und Nachteilen" zu geben. Dieser Überblick ist breit und tief angelegt und bietet so zahlreiche Anregungen für eigenes, weiterführendes Denken.

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel und "resümierende Überlegungen". Besonders interessant dürfte das erste Kapitel sein, das sich mit den Anfängen und der internationalen Entwicklung der digitalen Revolution beschäftigt und so Erklärungen über unsere heutigen Lebensumstände gibt. Dies gilt auch für die Kapitel III, IV, V und VI, die sich mit den Entwicklungen seit Beginn der zweiten Globalisierung Mitte der 70er Jahre beschäftigen.

Von besonderem Interesse sind aber die Kapitel, die sich mit der globalen Wirtschaft (Kap. II), mit Europa (Kap. VII) und mit "Weltpolitik und Weltgesellschaft seit 1990" beschäftigen: Wer wissen will, wie die Welt heute im Kern funktioniert und von welchen Bedingungen dies abhängig ist, darf an diesen Kapiteln nicht vorbeigehen. Denn spätestens jetzt dürfte auch in Europa die Erkenntnis Platz greifen, dass es mit Fukuyamas schöner These vom "Ende der Geschichte" von 1990 endgültig vorbei ist. Oder, um es mit den Worten Rödders zu sagen: "Das 'alte Europa' hatte die besonderen Erfahrungen der europäischen Integration auch auf die Wahrnehmung der Lage jenseits der eigenen Grenzen übertragen. Die Realität aber war komplexer, als es die Hoffnung auf eine weltweite demokratisch-prowestliche Konvergenz wahrhaben wollte." Er belegt dies nicht nur mit vielen Beispielen, er beschäftigt sich auch grundsätzlich damit. Und das macht diese Kapitel so zentral!

Im Zentrum steht dabei die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen der realistischen und der idealistischen Weltbetrachtung. Denn für erstere bestimmen Macht und nationale Interessen die Außenpolitik, für letztere internationale Organisationen und die Vorstellung von einer Weltgesellschaft. Allerdings ist die Schlussfolgerung, die Rödder daraus zieht, denn doch überraschend. Für ihn handelt es sich dabei "um eine Glaubensfrage, in die empirische und normative Ebenen ineinanderfließen, was auf beiden Seiten zu Sichtbeschränkungen führt". Dies ist nicht ganz falsch, sagt aber noch lange nichts darüber aus, welche Sichtweise heutzutage adäquater sein dürfte.

Rödder legt sich hier, auch unter Verweis auf die grundsätzliche Offenheit der Geschichte, nicht fest, doch wird deutlich, dass er eher kein Anhänger einer idealisierenden Weltsicht ist. Er kommt zum logischen Schluss: "Was als Kompass hilft, ist Offenheit statt Selbstgewissheit. Das gilt für unvorhergesehene Gefahren, für neue Bedrohungen der Freiheit und für unerwartete Konflikte." Und deshalb sei es das Beste, "wenn sich neue Ideen mit dem Sinn für die Realitäten verbinden". Kann man da widersprechen?

Dieser Duktus zieht sich durch das ganze Buch und macht es im besten Sinne aufklärerisch und ansprechend. Allerdings gibt es auch ein paar Wermutstropfen: Viele unübersetzte Zitate erinnern an das bildungsbürgerliche 19. Jahrhundert, zu viele (überflüssige) Anglizismen ärgern nur, und ob der Titel "21.0" mehr ist als ein Marketinggag, mag der Leser selbst entscheiden. Ansonsten ist es wirklich ein lesenswertes Buch!

(RP)
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