Düsseldorf Gas, Blut, Prothesen –medizinischer Fortschritt im Krieg

Düsseldorf · Für viele Bereiche der Heilkunde bedeuteten die fürchterlichen Verletzungen auf dem Schlachtfeld einen enormen Wissensschub.

Jeder Krieg löst in einer Art Umkehrschub einen Fortschritt in der Medizin aus. Das Menschenfeindliche gebiert auf der anderen Seite einen enormen humanen Fortschritt; für die Heilkunde ist das Schlacht- ein Lern- und Experimentierfeld. Im Ersten Weltkrieg war das nicht anders. Der renommierte Medizinhistoriker Wolfgang Eckart hat dies in seinem Standardwerk "Illustrierte Geschichte der Medizin" unter der Überschrift "Blut, Chemie und Läuseplage — Aspekte der Modernisierung" dargestellt.

In der Tat waren die zahllosen Soldaten ein gigantischer Pool für Blutuntersuchungen, die für die junge Kunst der Blutgruppenbestimmung und für die Entwicklung der Transfusionsmedizin einen heftigen Kompetenzschub leisteten. Beides war in diesen Jahren dringender nötig denn je, denn der Erste Weltkrieg war ein Krieg vieler stark blutender Wunden, bei deren Versorgung oft improvisiert werden musste. Dadurch trat ein Wissensgewinn ein, der sich alsbald, nach Kriegsende, institutionalisierte: Die Transfusion wurde Teil der ärztlichen Gebührenordnung, und viele Kliniken etablierten den Blutspendedienst.

Was dem Gegner und was den eigenen Leuten zugefügt wurde, war zur selben Zeit Gegenstand der Kampfgas-Forschung. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie in Berlin-Dahlem war europaweit eine führende Institution, und ihre toxikologische Überlegenheit ließ die Deutschen 1915 als erste Armee Kampfgas einsetzen. Die Erfahrungen waren grässlich, doch für die Entwicklung der Medizin von hohem Nutzen. Ähnliche Lerneffekte bescherte der Krieg der Heilkunde auf dem Gebiet der Prothetik und der Amputation. Die Bilder sind Legende, wie Soldaten mit zerschossenem Unterkiefer und entstellenden Gesichtsverletzungen ("Gueules cassées") notdürftig zusammengeflickt wurden und den neurologischen und chirurgischen Disziplinen ungezählte Probanden besorgten; die Erforschung der Aphasie (Sprachstörung nach Hirnverletzung) schritt in diesen Jahren mit Siebenmeilenstiefeln voran. Diese und andere Traumata hinterließen zudem eine Armee gebrochener Menschen mit seelischen Wunden, für die therapeutisch nicht im mindesten gesorgt werden konnte. Das historische Wort der "Kriegsneurose" beschreibt nur vage die psychische Seite der Zerstörung.

Die schmutzigen Seiten des Krieges zeigten sich auch auf anderem Feld: bei der Seuchen- und Hygieneforschung. Die Bekämpfung des durch Läuse übertragenen Fleckfiebers wurde zu einem zentralen Thema, bei dem sich auch Rasse-Denken ungeniert breit machte. Es wurde etwa bei Entlausungsaktionen der "verschmutzten jüdischen Bevölkerung" mitleidlos demonstriert.

So war der Krieg, wie der Tropenmediziner Carl Mense schrieb, "ein riesiges epidemiologisches Experiment, wie es die Seuchenforschung nie erträumen konnte".

(RP)
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