Fantastisches Sozialdrama "Ricky" Vom Baby, dem Flügel wuchsen
(RP). Francois Ozon, der 2002 mit dem Star-Reigen "Acht Frauen" auch in Deutschland bekannt gewordene Autor-Regisseur, liebt gewagte Variationen vertrauter Filmgattungen – ob in mondänen Melodramen wie "Swimming Pool" oder in viktorianischen Kostümstücken wie "Angel – Ein Leben wie ein Traum". Mit "Ricky" treibt er's besonders toll: Als wäre es sein ganzer Ehrgeiz, ein sozialkritisches Drama mit einer Fantasy-Komödie im Disney-Stil zu kreuzen.
(RP). Francois Ozon, der 2002 mit dem Star-Reigen "Acht Frauen" auch in Deutschland bekannt gewordene Autor-Regisseur, liebt gewagte Variationen vertrauter Filmgattungen — ob in mondänen Melodramen wie "Swimming Pool" oder in viktorianischen Kostümstücken wie "Angel — Ein Leben wie ein Traum". Mit "Ricky" treibt er's besonders toll: Als wäre es sein ganzer Ehrgeiz, ein sozialkritisches Drama mit einer Fantasy-Komödie im Disney-Stil zu kreuzen.
"Ricky" hat bei seiner Uraufführung auf dem letzten Berliner Filmfestival höchst zwiespältiges Aufsehen erregt. Denn Ricky ist ein Baby, dem buchstäblich Flügel wachsen — und das in einem sehr prosaischen Milieu. Ozon schildert das im heutigen Kino rare Arbeiter-Milieu mit einem temperamentvollen Realismus, der an die Filme der belgischen Brüder Dardenne oder des Engländers Ken Loach erinnert. Wie zunächst die Fabrikarbeiterin Katie (Alexandra Lamy) und ihre kleine Tochter Lisa allein ihren schwierigen Alltag in einem Pariser Vorort meistern, wird genau gezeigt. Lisa ist eine kluge, aber niemals vorwitzig-altkluge Freundin ihrer Mutter. Den Einzug eines Mannes in den Zweipersonen-Haushalt nimmt sie ohne große Rebellion hin.
Diesen Paco, in den sich Katie Hals über Kopf verliebt, verkörpert der Spanier Sergi Lopez mit jenem animalischen Charme, mit dem er viele französische und spanische Filme der letzten Jahre prägte. Mit der Geburt von Ricky platzt eine brüchige Idylle. Ricky ist ein ungewöhnlich hübsches, großes und lebenshungriges Baby. Seine Halbschwester Lisa liebt ihn. Seine Eltern dagegen wirken überfordert. Ein alltäglicher Konflikt wird so spannend zugespitzt, dass man das Warten auf Babys wundersame Verwandlung ganz vergisst.
"Moth" (Nachtfalter) und nicht etwa "Engel" heißt die Kurzgeschichte der Engländerin Rose Tremain, aus der Ozon die Anregung bezog, ein Familiendrama zu einer phantastischen Farce zuzuspitzen. Katies Verdacht, dass ihr Baby zu einem Freak heranwächst, steigert ihren mütterlichen Beschützerinstinkt bis zur Hysterie und treibt Paco in die Flucht, noch ehe Rickys Flügel sprießen. Erst wenn das Baby wie ein fetter Weihnachtsengel durch ein Kaufhaus flattert, lässt sich die ängstliche Mutter von Lisas Begeisterung für Rickys Flugkünste anstecken.
Das sorgt für schrille Komik und führt zu Katies Versöhnung mit dem vertriebenen Paco. Doch der Weg zu diesem bizarren Finale ist so lang und spannend ausgemalt mit seiner liebevollen Personen- und Milieu-Beschreibung, dass der Zweifel bleibt: Wäre ein "Ricky" ohne Flügel nicht doch überzeugender geblieben? lll