Kinokritik: "Raum" Oscar-Gewinnerin Brie Larson spielt ein Entführungsopfer

Hamburg · In dem Drama "Raum" brilliert Brie Larson als junge Frau, der nach langjähriger Gefangenschaft die Flucht mit ihrem kleinen Sohn gelingt. Dafür hat sie gerade den Oscar als beste Hauptdarstellerin gewonnen.

Film-Kritik"Raum": Brie Larson spielt das Entführungsopfer
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Jack hat alles, was er sich wünscht: Zeit für Sport und zum Spielen, ein kuscheliges Bett, eine Badewanne, eine liebende Mutter, einen Fernseher und einen freien Blick auf den Himmel - durch ein Oberlicht von seiner Welt auf neun Quadratmetern. Nur einen Hund, den hätte er gern noch. Jack lebt sein ganzes Leben in diesem Raum.
Es ist sein Universum. Wie alle Kinder besitzt er die Fähigkeit, die eigene Welt mit all ihren Bedingungen als das Normale zu begreifen.

Seine Mutter Joy, gespielt von Brie Larson, ist es, die diese Illusion seit fünf Jahren kreiert. Sie selbst lebt seit sieben Jahren, dem Zeitpunkt ihrer Entführung, in diesem Raum. Für ihr eindringliches Spiel als verzweifelte, tapfere Mutter erhielt Larson nach einem Golden Globe nun auch den Oscar als beste Hauptdarstellerin.

Die Autorin Emma Donoghue hat ihren gleichnamigen Bestseller aus dem Jahr 2010 für die Leinwand adaptiert, Regisseur Lenny Abrahamson ("Frank") inszeniert als bedrückendes Drama, einen Thriller, in dem er vieles auslässt und damit so viel erzählt.

Alles ist schäbig in diesem Raum: die kleine Kochnische, mit einem klapprigen Regal über dem Herd und einigen Lebensmitteln, daneben die Toilette, eine Badewanne, der Tisch, das Bett, die ausgewaschenen Decken und Klamotten, die 24-jährige Joy, blass, mit unreiner Haut und strähnigen Haaren.

Mittendrin der fünfjährige Jack, der mit seinen großen Augen aufmerksam, fröhlich und neugierig in diese Welt blickt, eine Welt, die seine Mutter so normal wie möglich zu gestalten versucht. Aus Eierschalen basteln sie Ketten, sie lernen, lesen, machen Gymnastik.

Joy ist immer für Jack da, auch wenn er das Ergebnis einer der vielen Vergewaltigungen ihres Peinigers ist. "Außer an den Tagen, an denen du verschwunden bist", sagt der Junge später einmal über die Zeit, wenn sich Joy unter der Bettdecke verkriecht.

Der Peiniger, das ist ein lange gesichtsloser Mann, der die beiden mehr schlecht als recht versorgt, den Jack aber niemals zu Gesicht bekommt. Denn wenn "Old Nick" den mit Stahltür und Zahlenkombination gesicherten Raum betritt, ist Jack (Jacob Tremblay) längst in dem Schrank verschwunden. Es ist Jacks Alltag: Er hat Spaß, langweilt sich, streitet sich mit seiner Mutter, lacht mit ihr, lernt, schaut fern, gehorcht. Ein ganz normaler Junge eben.

Doch irgendwann - nach ziemlich genau der Hälfte des Films - hält Joy es nicht mehr aus. Sie schmiedet einen Fluchtplan, der allein von Jack abhängt. Eine Flucht, die so spannend inszeniert ist, bei dem die Zuschauer und Jack zum ersten und einzigen Mal einen kurzen Blick auf den Entführer erhaschen.

Waren Jack und Joy auf ihren neun Quadratmetern in einem gesicherten Raum, strömen nun plötzlich Eindrücke, Erwartungen und ein neues Leben auf sie ein. "Du wirst sie lieben die Welt", sagt Joy und dann ist es sie selbst, der es kaum gelingt, sich in der Welt zurechtzufinden. Nachdem sie sieben Jahre in einem Gartenschuppen eingesperrt war, lebt sie jetzt hinter den geschlossenen Gardinen ihres Elternhauses - um sich vor der wartenden Reportermeute zu verstecken, vor dem Leben.

Ihre Eltern, gespielt von Joan Allen und William H. Macy, haben sich inzwischen getrennt. Und während sich Joes Mutter rührend um ihre Tochter und ihren Enkeln bemüht, kann der Vater die Anwesenheit von Jack nicht ertragen. Alte Konflikte brechen auf, Vorwürfe werden gemacht. Mühsam müssen Joy und Jack ihre vermeintliche Freiheit erlernen - und wieder ist es Jack, dem dies sehr viel leichter gelingt, als der gebrochenen zutiefst verstörten Joy. Dieser zweite Teil des Dramas ist fast noch beklemmender als der erste.

Abrahamson interessiert sich nicht für den Täter, nicht für die Entführung, die regelmäßigen Vergewaltigungen. Er interessiert sich ausschließlich für Joy und Jack, erst im Raum, in dem die Zuschauer ebenso gefangen und orientierungslos sind wie die beiden Protagonisten, später außerhalb, wo sich Joy ebenso verloren fühlt.

Wie in der Romanvorlage erzählt Abrahamson die Geschichte, die zweifelsohne von realen Fällen wie denen von Natascha Kampusch und Josef Fritzl, der seine eigene Tochter 24 Jahre gefangen hielt, inspiriert ist, aus der Sicht des fünfjährigen Jacks. Er begegnet der Welt und den Menschen mit kindlicher Unvoreingenommenheit - das aber macht es umso schmerzlicher.

(rent/dpa)
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