"Ein Atem" von Christian Zübert Das Kindermädchen vom Fahndungsplakat

Düsseldorf · Zweifel in der Verzweiflung kennt Tessa keine mehr. "Sie hat sie mitgenommen", erklärt sie unwirsch den Polizisten, die gerade in der schicken Wohnung der Angestellten einer Werbeagentur stehen. Tessas kleine Tochter Lotte ist verschwunden, das griechische Kindermädchen Elena (Chara Mata Giannatou) ebenfalls.

Wir Zuschauer sind zu diesem Zeitpunkt, in der Mitte von Christian Züberts Film "Ein Atem", ein wenig schlauer als Tessa. Wir wissen zwar nicht, was Lotte zugestoßen ist oder wo Elena steckt. Aber wir wissen, wie es zur Katastrophe kam. Elena hat den Kinderwagen mit Lotte für einen Moment vor der Bäckerei abgestellt. Als sie mit einem jener Rosinenbrötchen wiederkehrte, die Lottes häufiges mürrisches Greinen zuverlässig stillen, stand da nur noch ein leerer Kinderwagen.

Dieses Bäckerei-Alibi hätte es für Elena aber gar nicht gebraucht. Sie steht schon deshalb nicht unter Verdacht der Zuschauer, weil "Ein Atem" bei ihr in Griechenland beginnt, weil er sie vorstellt und ihre Motivation, nach Deutschland zu gehen, nachvollziehbar macht. Elena und ihr Freund, ein auftragsloser Architekt, möchten eigentlich gerade Sex haben, in dessen altem Kinderzimmer im Elternhaus. Es ist dann nicht nur der Lärm des Fernsehapparats des Bruders im Raum nebenan, der die Leidenschaft stört. Es ist das Bewusstsein der griechischen Krise und der Perspektivlosigkeit, das wieder nach den Liebenden fasst und sie ernüchtert. "Fuck", flucht Elena, "wir sind in dem Alter, in dem was passieren müsste. Aber wir sitzen in deinem Kinderzimmer und tun nichts."

Ihr Freund spricht kein Deutsch, Elena hat die Sprache studiert. Darum verweigert er sich dem oft gemachten Vorschlag, ins Ausland zu gehen. Aber diesmal bricht Elena ohne ihn auf. Und als sie in Deutschland erfährt, dass sie schwanger ist, dass also der harte Job in der Gastronomie, den sie sicher hatte, zu anstrengend für sie wäre, nimmt sie eben eine Stelle als Kindermädchen an. Nein, sie hegt da keinerlei kriminelle Absichten.

Aber weil der 1973 in Würzburg geborene Zübert ("Lammbock") seinen Film eben in Griechenland beginnen lässt und uns die große Frustration der ausgebremsten jungen Generation dort zeigt, sind wir darauf eingestellt, "Ein Atem" als einen der erstaunlich wenigen Kinobeiträge zur Griechenlandkrise zu lesen. Will heißen, wir sehen das Symbolische im Konkreten. Elena als Kindermädchen der wohlhabenden, gestressten, unzufriedenen, pingeligen Tessa: das ist Griechenland als optionslose Magd des reicheren Deutschland. Tessas Wut und ihr Fahndungsplakat stehen dann, auch wenn Zübert das gar nicht so gemeint haben mag, für die vorschnelle Schuldzuweisung an alle Griechen, für ein Missverständnis in der Schuldenkrise.

Die zuvor nicht unbedingt sympathische Tessa fällt in Griechenland, so nachvollziehbar ihre Aufgeregtheit und ihr Drängen sind, als unverschämte Deutsche auf. Und der besonnene Dolmetscher, den sie heuert, steht wieder mal da als die personifizierte Lebensweisheit, die der Armut entwächst, und von der die reichen Deutschen nur lernen können. Als Film über Menschen, als Beinahe-Krimi, hat "Ein Atem" Qualitäten, wenn auch ein fades Ende. Mit all der Symbolik des deutsch-griechischen Verhältnisses aber ist er heillos überfrachtet.

Ein Atem, BRD 2015 - Regie: Christian Zübert mit Jördis Triebel, Chara Mata Giannatou, Benjamin Sadler. 100 Min.

(RP)
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