Düsseldorf Engelsstimmen im Geisterhaus

Düsseldorf · Der Regisseur Immo Karaman setzte seinen Zyklus mit Opern von Benjamin Britten in Düsseldorf mit "The Turn of the Screw" fort. Das Publikum erlebte einen aufregenden Abend, an dem prachtvolle Sänger und ein famoses Orchester unter Wen-Pin Chien immensen Anteil hatten.

Gelegentlich ist das Prinzip der verspäteten Einsicht auch in einem Opernhaus zu erleben. Braust nicht manche Produktion zunächst auf ein Nebengleis? Etliche leere Plätze, Auslastung allenfalls 60 Prozent, das Stück kennt kaum jemand, der Titel sagt einem nichts, der Komponist lebte im 20. Jahrhundert – bei solcher Aktenlage bleibt mancher lieber daheim. Doch plötzlich löst Flüsterpropaganda Gegenbewegungen aus – Leute, die in der Premiere waren, berichten von zwingender Suggestivität, bannenden Bildern, musikalischer Dichte. Und auf einmal ist die Kasse umlagert.

Ähnliches könnte jetzt der Rheinoper in Düsseldorf passieren. Benjamin Brittens Oper "The Turn of the Screw" (Die Drehung der Schraube) leidet seit der Uraufführung im Jahr 1954 unter ihrem rätselhaften Titel; er geht auf die Novelle von Henry James zurück. Bis heute gibt es keine plausible Erklärung, was er bedeutet. Alles ist geisterhaft hier – doch gerade an diese Geister können wir uns felsenfest klammern. Sie erscheinen einer prinzipientreuen Gouvernante, die in einem englischen Landhaus zwei elternlose Kinder großziehen soll. Bei den Gespenstern handelt es sich um frühere Bedienstete (Peter Quint und Miss Jessel), die mit den Kindern offenbar in innigem Kontakt standen und unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen. Bald nehmen die Halluzinationen die Gouvernante gänzlich gefangen, und als sie den kleinen Miles vor der bedrohlichen Erscheinung des früheren Dieners Peter Quint retten will, stirbt der Kleine in ihren Armen.

Wer sieht hier was? Wer erscheint wem? Wer hört hier Stimmen? Was ist real, was irreal? Was wissen die Kinder, was weiß die Haushälterin Mrs. Grose? Diese Fragen drängen sich auf, wenn wir uns auf Immo Karamans atmosphärisch überaus dichte Inszenierung einlassen, die dieses Haus in Besitz nimmt und allmählich verwandelt – die Wände verschieben sich, die Treppe kippt, Mauern lösen sich auf (Bühne: Kaspar Zwimpfer). Es ist ein bisschen Edgar Allen Poe. Manchmal flackert auch die Deckenlampe, ragen riesige Schatten über die Wände. Gottlob lässt der Regisseur keine Gardinen wehen. Die glänzendste Idee ist diejenige der Spiegelung des Vorderraumes nach hinten, wodurch sich neue irisierende Räume auftun; hier gibt es reichlich Platz für dämonische Erscheinungen. Die Vervielfachung der Miss Jessel zu vier kriechenden Ottern ist indes etwas derb.

"The Turn of the Screw" thematisiert subtil das Phänomen einer beinharten Moralität, die ein Gegenentwurf des Bösen oder vielmehr dessen Ableitung ist. Unschuldig ist hier niemand, selbst die Gouvernante nicht – vermutlich sind die Geister, die sie sieht und hört, nichts als unterbewusste Projektionen puritanischer Gesittung. Die Kinder lässt Karaman auch in ihren Ausbrüchen völlig normal sein – Miles' Selbstbezichtigung, "böse" zu sein, und Floras mitleidlose Ertränkung ihrer Puppe im Waschbecken beweisen keinen übernatürlichen Einfluss fremder Mächte oder etwa charakterliche Deformation. Grandios ist die Umsetzung von Miles' Dirigier-Orgie.

So bleibt denn alles an der Gouvernante hängen, einmal versteigt sie sich in ihrer Zuneigung gegenüber Miles, und Karaman gibt ihr am Ende auch die direkte Schuld an Miles' Tod: Wie in James' Novelle erstickt sie ihn ungewollt, als sie seine Schreie mit beiden Händen zu unterbinden sucht. Man könnte das möglicherweise weniger handgreiflich darstellen, ohne dass die verständliche Idee litte, den unnatürlichen Tod des Jungen am Ende erklärlich zu machen.

Sylvia Hamvasi gestaltet die Partie beeindruckend; sie lässt in ihrer ebenmäßig geführten, ausdrucksvollen Stimme jene Zuckungen zu, die dem Irrlichtern der Nervosität an fremdem Ort gleichen, welche die Gouvernante pausenlos verspürt. Corby Welch und Anke Krabbe geben die beiden Geister; Welch mit prächtiger Diktion und schmeichelnder Zudringlichkeit, Krabbe mit leuchtend-hellen Grüßen aus der Schattenwelt. Marta Márquez gibt der Mrs. Grose handfest-mitleidlose Rauheit. Wunderbar und gebührend gefeiert: Harry Oakes als Miles und Eleanor Burke als Flora. Die beiden Kinder singen das völlig sauber, wie gefallene Engel, und wirken jederzeit unbeeindruckt von ihren anstrengenden Aufgaben.

Im Graben entzückt ein überaus waches und tonschönes Kammerorchester der Düsseldorfer Symphoniker, das unter dem souveränen Wen-Pin Chien Behaglichkeit wolldeckenhaft ausbreitet oder radikal wegschmirgelt. Brittens umstandslose Griffigkeit funktioniert perfekt.

Großer Beifall im mäßig gefüllten Haus, Jubel für die Sänger. Setzt nun die verspätete Einsicht ein? Sie wäre dieser Oper zu wünschen.

(RP)
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