Denken und Fühlen in der Krise Die Zeit des Mitgefühls

Düsseldorf · Terror, Flüchtlingselend, Armut: Die Gesellschaft muss auf Leid und Schmerz der Menschen mit Mitgefühl reagieren. Empathie ist die wichtigste Eigenschaft des Augenblicks. Ein Essay.

 Flüchtlinge aus Afghanistan erreichen die griechische Insel Lesbos.

Flüchtlinge aus Afghanistan erreichen die griechische Insel Lesbos.

Foto: ap

Ich mag sie nicht, aber manchmal ist diese Stimme einfach da. Sie hört sich an wie meine eigene, und sie beginnt in den immer gleichen Situationen zu sprechen, etwa wenn ein Bettler um Geld bittet. "Wenn du einem etwas gibst, musst du allen anderen auch etwas geben", sagt die Stimme. Oder: "Es gibt Banden, die Bettler nur benutzen, um Geld zu verdienen, und von dem Geld werden Waffen gekauft und Drogen finanziert." Es sind absurde Sachen; die Stimme kennt keine Scham, nichts ist ihr zu dumm. Es dauert nur Bruchteile von Sekunden, aber es genügt, um mich zu verwirren, und wenn ich die Stimme nicht mehr höre, bin ich schon vorübergegangen. Ohne etwas zu geben.

Ich habe viel nachgedacht über diese Stimme, denn sie belastet mich. Sie wirkt wie ein Kannibale, der andere Emotionen auffrisst, sie wirkt wie die Dementoren bei "Harry Potter", die alle schönen Empfindungen aus einem Menschen saugen. Ich weiß, dass es anderen ähnlich geht wie mir. Dass sich nämlich in Augenblicken, da sie Mitgefühl zeigen möchten, eine Stimme zuschaltet, ein anderes Ich womöglich, das in Frage stellt, zu bedenken gibt und Gutes verhindert. Etwa in Bezug auf das Flüchtlingselend: Die Stimme fragt dann, ob es all diesen Menschen in ihrer Heimat wirklich so schlecht geht, dass sie herüberkommen müssen.

Je mehr ich über die Stimme gegrübelt, je mehr ich mit anderen über sie geredet habe, desto sicherer wurde ich, dass die Stimme die Bedingung von Empathie ist, die Hürde, die man überwinden muss, um ein empathischer Mensch zu sein. Empathie ist die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, fremdes Leid zu spüren, es nachzuvollziehen und zu verstehen. Empathie stammt vom griechischen Wort "empatheia" und wurde zusammengesetzt aus "en" (hinein) und "pathos" (Gefühl). Man weiss, dass Empathie allen Säugetieren zu eigen ist. In einer Studie zum Mitgefühl wird eine Szene im Zoo beschrieben, in der sich ein Gorillaweibchen um einen Vogel kümmerte, der benommen auf dem Boden des Affengeheges lag, nachdem er gegen eine Glasscheibe geflogen war. Der Gorilla nahm ihn in die Hand, kletterte auf den höchsten Baum, zog die Flügel des Vogels auseinander und schickte ihn in die Luft wie einen Papierflieger. Es half nichts. Aber es war ein Akt enormer Einfühlung.

Es gibt zwei Arten von Empathie. Zum einen die kognitive Empathie, die bloßes Kalkül sein kann. Etwa, um aufzuspüren, was Kunden wollen, und sie dann mit gezielter Werbung zu ködern. Und es gibt die emotionale Empathie. Sie ist als Gefühlsregung in jedem Menschen angelegt. Aber zur wahren Empathie gehört nicht nur das Wahrnehmen von Schmerz, Trauer oder Freude bei anderen, sondern auch, diese Emotionen zu deuten und darauf zu reagieren. Die wahre Empathie ist nicht einfach so zu haben, denn sie ist das Produkt einer Anstrengung; ihr geht die Entscheidung voraus, sich einzulassen.

Wahre Empathie ist eine Reise: Man muss aus sich selbst heraustreten, von sich selbst absehen. Man muss sich einem Verhalten verpflichtet fühlen, das man höher bewertet als die Summe der eigenen individuellen Neigungen. Es genügt nicht, "Ach, du Armer!" zu denken, weiterzulaufen und seine Krokodilstränen als Trophäen herzuzeigen. Man muss anhalten, zum anderen hingehen, sich kümmern. Empathie setzt eine bestimmte Selbstwahrnehmung voraus. Empathie erfordert Demut, denn Demut ist eine Form von Anteilnahme. "Demut bedeutet, dass man Fragen stellt, und Fragen bedeuten, dass man Antworten bekommt", schreibt die Amerikanerin Leslie Jamison in ihrem Essayband "Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer".

Empathie ist die wichtigste Eigenschaft des Menschen in diesen schwierigen Zeiten. Es gibt so viele Wahrheiten und so viele Auskenner, die einem sagen, wie man zu handeln habe. Da hilft als persönliche Richtlinie nur die Empathie. Für das Beispiel mit dem Bettler heißt das: Wir geben, weil wir erkennen, dass wir geben müssen, und deshalb beschränkt sich das Geben nicht bloß auf das Aushändigen von Geld. Wir geben einen Teil von uns selbst.

"Wir treten ein in die Ära der Empathie", schreibt der US-Soziologe Jeremy Rifkin in seinem Buch "Die empathische Zivilisation". Die Empathie sei das Mittel, mit dem wir unser Zusammenleben organisieren können. Empathie sei die Basis des Sozialen, Voraussetzung für Recht und Gesellschaft. Derzeit engagieren sich bemerkenswert viele Menschen für andere. Zugleich fällt die Abwesenheit von Empathie im Alltag auf. "Wo kommt die unglaubliche Kälte her?", fragt der in Dresden geborene Dichter Durs Grünbein mit Bezug auf die Pegida-Demos in seiner Heimat. "Da sind alte Frauen dabei, die mal Mütter waren. Warum haben die kein Mitleid, wenigstens mit den Kindern?"

Meine Theorie ist, dass aus der Stimme, die manchmal wie die eines imaginären Teufelchens über meinem Kopf steht, im Grunde Selbstgefälligkeit spricht. Sie steht für eine emotionale Abgeklärtheit, die im besten Fall Selbstschutz sein könnte: Es ist leichter, sich nicht einzulassen, bequemer. Anstelle der Empathiefähigkeit versichere ich mich lieber meines Urteilsvermögens, das scheint konkreter. Sicherer. Ungefährlich. Das Ergebnis dieser Strategie indes ist nicht Zuneigung oder Herzenswärme, sondern Ermattung, Ironie und Kälte. Wie die Stimme entsteht, ist jeweils verschieden. Bei dem einen Menschen aus Verunsicherung, beim anderen aus Neid, bei wieder anderen aus biografischen Traumata und unzureichend aufgearbeiteten emotionalen Verheerungen. Auch Stress stört Empathie. Sicher ist nur: Man kann die Stimme kaum zum Verstummen bringen. Aber man kann sie widerlegen.

Es hilft, die einfache Frage zu stellen, was man selbst von Mitmenschen erwartet, wenn es einem schlecht geht. Man könnte der Stimme das Foto beschreiben, das zu viele Menschen auf einem zu kleinen Schlauchboot zeigt, und gerade auf Lesbos ankommt. Man könnte die Gesichter der Menschen auf diesem Boot beschreiben, die schreienden Kinder, die Todesangst. Oder man könnte die Frage stellen, wie man sich wohl fühlte, wenn man etwa mit Grippe und völlig entkräftet von einer lebensgefährlichen Reise in einer Turnhalle mit lauter Fremden läge und auf etwas wartete, von dem man nicht weiß, was es ist. Wie fühlt es sich an, wenn man die Fäden seiner Marionettenexistenz deutlich sieht? Wie fühlt es sich an, wenn man etwas von der Welt braucht, um das man nicht bitten kann, weil man nicht weiß, wie oder wen man bitten könnte? Was sagst du dazu, Stimme?

Empathie versichert uns des gemeinsamen Menschseins. Die Stimme ist bloß ein Impuls, ein Reflex. Empathie hingegen ist ein Kraftakt, und der erfordert Mut. Insofern finde ich den berühmten Satz Angela Merkels in der Flüchtlingsfrage gut: "Wir schaffen das." Er drückt auf unsentimentale Art Transzendenz aus. Er gibt Sicherheit, weil er ein Ziel als gesetzt betrachtet, bevor man überhaupt aufgebrochen ist, es zu erreichen. Sowas sagt ein Familienoberhaupt: "Wir halten zusammen, und dass wir es hinbekommen, ist klar. Jetzt kümmern wir uns gemeinsam um das Wie." Der Satz ist ein Appell an das Urvertrauen. Er gibt Hoffnung.

Menschen sind die einzigen Säugetiere, die weiße Augäpfel haben. Bei Tieren hingegen haben Iris, Augapfel und Pupille dieselbe Farbe, und das liegt daran, dass keine Fressfeinde oder Opfer ihre Blickrichtung erkennen sollen. Bei uns darf jeder sehen, wo der andere hinschaut. Das zeigt, dass wir Gemeinschaftswesen sind; wir liefern uns aus, vertrauen uns einander an.

Gemeinschaft bedeutet, durchlässig füreinander zu sein. Dafür muss man das Ressentiment entkräften. Das ist das Ideal einer empathischen, menschlichen Gesellschaft: dass sie das Denken nicht vom Fühlen trennt.

(RP)
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