Pianistin Alice Sara Ott Elfe im Wunderland

Alice Sara Ott ist derzeit die spannendste deutsche Pianistin. Sie gilt als unerschrocken und stilvoll. Nach ihrer famosen Chopin-CD überwältigt sie jetzt mit Griegs Klavierkonzert.

Gelegentlich fallen Schatten der Schwermut auf die kronsaalhelle Brillanz von Frédéric Chopins Walzern - am längsten sind sie im Walzer cis-Moll op. 64. Immer wieder schiebt sich dort eine kreisende Figur nach vorne, ein trauriges Mühlrad, das kleine Seufzer transportiert. Im Mittelteil des Walzers tritt eine stolze Dur-Melodie auf, die nicht von der Schwermut angekränkelt zu sein scheint - doch auch ihr Glück wird nur von kurzer Dauer sein. Das Mühlrad wartet schon.

Wie spielt man diesen Moment der Sonne vor dem Rückfall in die Tristesse? Alice Sara Ott spielt ihn heroisch, selbstbewusst, frei ausgreifend, vital sich reckend, sie murmelt ihn nicht geduckt lyrisch wie die meisten Pianisten, als ob die Stelle schon wüsste, was ihr gleich widerfährt. Ott deutet das Mezzoforte, Chopins Lautstärkegebot, als Fallhöhe. Die Vorschrift "espressivo" nimmt sie wörtlich.

Dieser Moment verrät ein reifes Verständnis für das Konfliktpotenzial von Chopins Miniaturklavieropern, es zeigt sich ein wahrlich ungewöhnlicher pianistischer Entwicklungsstand. Nicht viele Künstler sind mit jungen Jahren so weit, dass sie kluge Lösungen sogar in Augenblicken anbieten, in denen man sie nicht erwartet. Alice Sara Ott, 1988 in München als Tochter eines deutschen Vaters und einer japanischen Mutter geboren, bietet in ihrer Einspielung aller Chopin-Walzer ein denktiefes, bezwingend logisches Klavierspiel ohne jene verhuschte Grazie, mit welcher die ominösen höheren Töchter in der Regel bei Chopins Klavierkunst unterwegs sind.

Alice Sara Ott ist aber auch keine zornige Amazone, die den Flügel als Perkussionsinstrument missbraucht. In den virtuosen Walzern wie der "Grande valse brillante" Es-Dur bleibt ihr Spiel immer blitzgescheit und argumentiert aus dem Geist der Kontrast-Dramaturgie; zugleich verraten zahllose Stellen Entdeckerlust und Experimentierfreude, etwa die von Ott besonders raffiniert akupunktierten Vorschläge im b-Moll-Seitensatz des Es-Dur-Walzers. Nebenbei bemerkt man eine entwaffnende Anschlagskultur. Chopins zehenspitzes Staccato, die balsamischen Pflegelotionen seines Legatos, seine kapriziösen rhythmischen Blitze - all dies beherrscht Ott souverän; es gibt kaum eine manuell unbewältigte Passage. Vor allem hat Otts Spiel in jedem Takt Eleganz, Esprit, Witz, Temperament. Es atmet Paris, atmet großen Salon.

Das ist jetzt einige Jahre her, doch anders als bei anderen Pianisten ist es um Alice Sara Ott nicht leiser geworden. Sie reguliert Angebot und Nachfrage perfekt, sie lässt sich Zeit für neue Projekte, bringt sie zum Reifen - und dann schlägt sie zu und entlässt eine Neuaufnahme in die Welt, dass man nur staunt. Alles so klug hier, so überlegt - und doch so spontan.

Wenn man mit ihr spricht, fällt ein überraschender, sehr erfreulicher Mangel an jenen Platitüden auf, die junge Künstler sonst von sich geben. Alice Sara Ott ist eine rundum gesund tickende Künstlerin, die in sich Euphorie und Skepsis vereint. Von ihren Vorbildern erzählt sie schwärmerisch, aber man ahnt, dass sie jene guten Verwandten sind, die man nur gelegentlich zu sich nach Hause einlädt. Zu viel Nähe, sagt sie, schadet nur. Aber wer ist dabei? Wer zählt zu den Altmeistern, in deren Platten eine der größten deutschen Klavierbegabungen reinhört, um Kontakt zur Ewigkeit des Klavierspiels zu bekommen?

"Alfred Cortot ist auf jeden Fall dabei", erzählt sie, "der ist einer der größten Chopin-Interpreten. Wenn ich Cortot höre, ist es, als ob ich einen reifen, guten Whiskey trinke. Cortot macht einen trunken, er hat wirklich den Atem und den Rhythmus für Chopin." Auf ihrer höchstpersönlichen Ahnenbank sitzen dann noch Arturo Benedetti Michelangeli ("Klangmagier"), der Franzose Alexandre Tharaud ("der spielt die alten Meister ebenso wundervoll wie Ravel"), der Ungar György Cziffra ("zu Unrecht vergessen"). Und natürlich darf Glenn Gould nicht fehlen, der notorische Fremdgänger der Klassik, der sich alle Eroberungen so unerbittlich gefügig machte, dass sie wie Familienangehörige wirkten.

So weit, dass die kleine Alice Sara irgendwann zu einem wie Alfred Cortot aufschaut, hätte alles eigentlich nicht kommen dürfen. Ihre japanische Mutter wollte gar nicht, dass die Vierjährige Klavier spielte. Daheim in Japan wurden Kinder ja reihenweise zu reizenden Klavierautomaten geformt, ein solches Schicksal wollte sie ihrer Tochter ersparen. Aber da meldete sich ein Wesenszug, der hinter der höflich-charmanten Alice Sara Ott fast ein wenig in Tarnung lebt: ihre Unerschrockenheit. Sie setzte ihren Kopf durch, nicht das erste und beileibe nicht das letzte Mal. Heutzutage ist es ohne Frage so, dass die Bosse der Plattenfirmen und ihr Management an einer Karriere mitbasteln. Aber was Alice Sara Ott spielt, das bestimmt immer noch sie selbst.

Bereits als Kind gewann sie zahlreiche Musikwettbewerbe und Förderpreise, darunter den Bundeswettbewerb "Jugend musiziert" und den Most Promising Artist Award in Hamamatsu, Japan. Als jüngste Teilnehmerin überhaupt konnte sie mit 15 Jahren beim Internationalen Klavierwettbewerb Silvio Bengalli in Italien den ersten Preis erobern; das galt als Sensation. Danach wurde sie vom Grandseigneur der deutschen Klavierpädagogik am Salzburger Mozarteum unterrichtet: von Karl-Heinz Kämmerling. Das waren letzte Weihen - mit der Anregung, das Leben am Klavier fortwährend als Etüde zu begreifen, die einen weiterbringt. Ott: "Kämmerling hatte so recht, man hört nie auf zu lernen."

Wenn wir über Chopin und Cortot sprechen, dürfen wir auch über dessen viele falsche Töne reden. Fehlerfrei gab's bei Cortot ja nur selten. Alice Sara Ott hat dazu ihre eigene Meinung: "Wir haben uns zu sehr an die Perfektion gewöhnt. Früher hat man sich um ein paar falsche Töne auch auf Platten überhaupt nicht geschert", sagt sie und schickt eine zarte Weisheitsformel gleich hinterher: "Ein Makel kann doch so schön sein. Aus ihm spricht Menschlichkeit."

Ihre Unerschrockenheit hat dann auch zu einem beispielhaft spannenden Repertoire geführt. Darin befindet sich das mondäne Schlachtross der Literatur, das Klavierkonzert Nr. 1 b-Moll von Peter Tschaikowski, ebenso wie die lyrischen Stücke von Edvard Grieg. Sie spielt aber auch Clara Schumann und - vierhändig mit Francesco Tristano - den "Sacre du printemps" von Igor Strawinsky. Den hat sie mit Tristano auf einem Album unter dem Titel "Scandale" herausgebracht, obwohl sie natürlich weiß, dass der "Sacre" heutzutage nicht für Kräche, sondern für Jubel und Blumen sorgt. "Damals, bei der Uraufführung, flogen die Fetzen. Und das wollten wir hörbar machen." Daneben: immer wieder Beethoven. Und Liszt, der Hexenmeister mit der unerhörten lyrischen Phantasie.

Jetzt hat Alice Sara Ott ihre lange Liebe zur Musik von Edvard Grieg auf CD konkretisiert. Das Klavierkonzert a-Moll hat man lange nicht mehr so innig, so introvertiert gehört; Ott entdeckt eine ganz neue Dimension hinter dem Werk; sie fahndet nämlich nach dem Abgründigen, nach den Nachtseiten bei Grieg, nach dem Spuk und der verbotenen Alchemie, die es gerade im Reich der Trolle zuhauf gibt. Nicht grundlos haben die Pfiffikusse der Deutschen Grammophon die Platte "Wonderland" betitelt - es ist eine Anspielung auf die gleichsam halluzinogenen Momente in Lewis Carrolls berühmtem Kinderbuch, in welchem eine Vornamensschwester Otts die zentrale Rolle spielt. Ebenso zwinkert der Titel zur fabelhaften Klavierwelt Grieg hinüber, in der sich neue Stimmungen oft bei jedem zweiten Taktwechsel auftun.

Das alles ist kolossale Klavierliteratur, bei der die Technik hundertprozentig stimmen muss, sonst wird es nichts. Aber was ist Technik? "Du hast sie nicht, wenn du nur wahnsinnig schnell viele richtige Töne spielen kannst", sagt Ott. "Technik ist nichts anderes als ein Werkzeug, mit dem du jeden Ton so spielen kannst, wie du ihn dir vorgestellt hast." So kommt es denn, dass schon der erste prangende a-Moll-Akkord des Grieg-Konzertes nicht wie ein fettes Pfund klingt, sondern wie eine Säule, die schwingt wie ein Glasfiberstab. Mit diesem Werk ist sie seit langem privat: "Ich spiele es seit zehn Jahren, mein Verhältnis zu ihm hat sich stark verändert. Heute empfinde ich es als unglaublich schwierig, denn es besteht die Gefahr, dass es auseinanderfällt; es ist ja so sehr schlicht, es neigt nicht zur Extravaganz, es mag sogar einfältig erscheinen. In Wahrheit ist es ein perfektes Modell vom komponierter Innigkeit."

Auch die zehn "lyrischen Stücke" Griegs, die das Album komplettieren, sind kein plattes Füllmaterial; es ist abermals eine neue Welt, die Alice Sara Ott für ihre Hörer aufstößt. In dieser Welt geht man gern verloren, denn es ist eine beeindruckende, erfüllende Platte geworden.

Mit Grieg geht sie bald auf Tournee, dazu wird sie Liszts h-Moll-Sonate spielen, was beinahe wie ein Tabubruch wirkt. In Wirklichkeit sind Grieg und Liszt Verwandte im Geiste: Liszt setzte sich stark für den jungen Grieg ein; und weil er restlos überzeugt war von Griegs Violinsonaten, verschaffte er dem jungen Künstler 1869/70 ein Reisestipendium der Stadt Christiania für einen Aufenthalt in Rom. Dort lernten die beiden einander kennen. Es wird spannend sein zu erleben, wie Grieg und Liszt im Konzert wirken: Merkt man ein Gefälle? Sind es zwei Welten? Oder gibt es rote Fäden vom einen zum anderen und zurück? Bei Grieg fühlt sich Alice Sara Ott jedenfalls wie in einem "Tagtraum". Wird Liszts Sonate zur "Traumnacht"?

Sie erzählt das alles sehr ruhig und besonnen. Aber Neugierde hat sie sich bewahrt, das ist schön so. Als sie im Gespräch erfährt, dass ihr Vorbild Glenn Gould und ihr Hausheiliger Edvard Grieg im wirklichen Leben verwandt waren (Goulds Urgroßvater war ein Cousin Griegs), ist sie für eine Sekunde sprachlos. Dann will sie alles über die beiden wissen. Ja, die Wissbegier hört bei Alice Sara Ott nie auf. Auch deshalb ist sie so großartig.

(RP)
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